In einem Seniorenheim in Birken-Honigsessen im Westerwald dürfen Alkoholabhängige auch einmal zum Glas Wein greifen. Voraussetzung: Sie gehören der dortigen Suchtgruppe an und halten sich an bestimmte Regeln. Jahrelang wurde das Thema Alkohol im Altenheim von der Gesellschaft weitgehend ignoriert. Doch inzwischen hat sich der Umgang mit trinkenden Bewohnern von Seniorenheimen positiv gewandelt, wie der Leiter einer Suchtklinik in Bad Neuenahr-Ahrweiler, Hubert Buschmann, feststellt.
Aber es gibt auch kritische Stimmen, beispielsweise aus Zweibrücken von Paul Schmidt von der Diakonie Pfalz. Schmidt berät seit 25 Jahren Menschen aller Altersstufen bei Alkoholproblemen und sagt, für Menschen über 60 Jahre gebe es zu wenige Hilfsangebote. “Weil es in erster Linie darum geht, jüngere Berufstätige wieder in den Beruf zu bringen.”
Laut Schmidt bleibt bei der älteren Generation eine Sucht oft unerkannt. Senioren versteckten das Trinken besser, Komasaufen gebe es bei ihnen nicht. Auch in Altenheimen werden Alkoholprobleme oft nicht angegangen, ist sein Eindruck. “Ich denke, man hat da keinen Plan.” In 25 Jahren habe sich ein Seniorenheim bei ihm noch nie wegen eines trinkenden Bewohners, sondern nur wegen Pflegern mit Problemen gemeldet.
Das sieht der Arzt Hubert Buschmann anders und spricht von einer zunehmenden Sensibilisierung in Seniorenheimen. “Das ist nicht mehr dieses Weggucken.” Dies zeige sich bei Weiterbildungen für Pfleger, in denen das Thema Sucht explizit zur Sprache komme. Pflegekräfte müssten darauf achten, dass Angehörige Abhängigen keinen Alkohol als Geschenk mitbrächten. Denn generell tränken viele Senioren zwar moderate Mengen, aber es gebe auch immer mehr problematische Fälle.
Einen besonderen Status haben Süchtige in einem Senioren- und Pflegezentrum in Birken-Honigsessen: In einer eigenen Wohngruppe dürfen sie Alkohol trinken und auch zur Zigarette greifen. “Wir helfen aber auch jedem, der abstinent werden möchte”, sagt die Leiterin des Zentrums, Stefanie Giese. Mit Hilfe der Gruppe, in der auch Glücksspielsüchtige untergebracht sind, sollen die Mitglieder für den Alltag außerhalb des Zentrums fit gemacht werden. “Die wollen ja nicht für den Rest ihres Lebens bei uns bleiben”, sagt Giese. Deshalb gebe es für die Gruppe strenge Regeln. So dürfe zum Beispiel nur auf dem Zimmer getrunken werden, im Gegensatz zu den anderen Bewohnern des Heims müssten die Gruppenmitglieder für Ordnung in den Aufenthaltsräumen sorgen. “Weil Struktur wichtig ist.”
Suchtgruppen in Altenheimen wie die in Birken-Honigsessen sind nach Gieses Angaben in Deutschland selten. Viele Einrichtungen weigerten sich, trinkende Bewohner aufzunehmen, weil sie diese oft als laut und aggressiv einschätzten. Außerdem werde um das Image des Hauses gefürchtet, und die Kosten seien hoch. Aber man müsse sich dem Thema mehr und mehr stellen, da die Dunkelziffer Älterer mit Alkoholproblemen hoch sei.
Nach Einschätzung der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) trinkt jeder siebte Erwachsene in Deutschland zu viel Alkohol. Als abhängig gelten demnach etwa 1,8 Millionen Menschen. Wie viele davon im Seniorenalter sind, ist DHS-Sprecherin Christa Merfert-Diete zufolge nicht statistisch erfasst. Der Übergang vom Alkoholmissbrauch zur Sucht sei fließend. Außerdem werde eine Abhängigkeit nicht immer bemerkt. Die Trinkgewohnheiten von Senioren in Deutschland seien dennoch in steigendem Maße ein Problem.
Die Sprecherin der DHS verweist zudem auf steigenden Missbrauch von Medikamenten. Darin stimmen auch Altenheimleiterin, Suchtberater und Arzt überein. Nach Ansicht von Klinikleiter Buschmann sind davon vor allem Frauen betroffen. Er kritisiert die Verschreibungspraxis von Hausärzten und schätzt, dass etwa 30 Prozent der Frauen mit 65 Jahren und älter Beruhigungsmittel nehmen. Auch in Altenheimen würden Senioren teils ärztlich verordnet ruhiggestellt. Oftmals steckten hinter einer Medikamentensucht übersehene psychische Erkrankungen wie Schlaflosigkeit, Altersdepression oder innere Unruhe, sagt Buschmann. Mitunter wolle ein Patient aber auch nicht zum Facharzt, aus Angst, als “bekloppt” abgestempelt zu werden.
Nach den Erfahrungen von Berater Schmidt sind manche Hausarztpraxen an der Arzneimittelsucht einiger Patienten nicht unbeteiligt. So werde zum Beispiel versucht, ein Alkoholproblem medikamentös zu behandeln, woraus sich nur eine andere Sucht entwickle, sagt Schmidt.
Text: dpa /fw
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