Jeweils mehr als 1.000 Menschen sind allein in den vergangenen fünf Jahren bundesweit an Drogen gestorben. Dabei gibt es für den häufigen Fall einer Opioid-Überdosis ein lebensrettendes Medikament. Nur hat es kaum jemand bei sich. Könnte das bald anders werden?
Die Pupillen sind verengt, die Atmung geht langsam und unregelmäßig. Ein Klaps auf den Arm, ein lautes "Hallo" - keine Reaktion. Wenn Menschen in Deutschland an einer Überdosis sterben, sind meist Opioide im Spiel: zum Beispiel Heroin, Oxycodon, Tilidin oder Fentanyl. Stoffe, die etwa Schmerzen stillen und Ängste lösen, aber auch zum Atemstillstand führen können. Mehr als 700 Menschen starben 2017 bundesweit aus diesem Grund. Dabei gibt es schon lange ein Medikament, das bei Opioid-Überdosen die Rettung sein kann. Nur kommt es bislang selten zum Einsatz.
Doch vor dem Internationalen Tag gegen Drogenmissbrauch am 26. Juni zeigt sich die Bundesdrogenbeauftragte Marlene Mortler (CSU) ebenso optimistisch wie Suchtexperten, dass sich das bald ändern könnte. Anlass ist, dass das Notfallmedikament Naloxon in Deutschland bald in Form eines Nasensprays auf den Markt kommen soll - die Deutsche Aids-Hilfe rechnet damit noch in diesem Jahr. Dadurch kann die Arznei künftig im Prinzip jeder anwenden. Bisher muss sie gespritzt oder improvisiert mit einem Aufsatz in die Nase gesprüht werden - was Fachleute aber als sehr umständlich beschreiben.
"Durch die einfache Gabe als Nasenspray wird die Hemmschwelle, zu helfen, sicherlich niedriger sein», erklärt Mortler. Hierzu laufe im September in mehreren Städten Bayerns ein Modellprojekt an. Ohne den Ergebnissen vorgreifen zu wollen, setze sie "große Hoffnungen in Naloxon als Nasenspray, um Leben zu retten und so die Zahl der Drogentoten weiter zu reduzieren".
In den USA, wo es eine beispiellose Opioid-Krise mit tausenden Toten jährlich gibt, tragen viele Polizisten das Spray bei sich. In Kanada wurde das Mittel tausendfach als Notfall-Set abgegeben - eine Studie im Journal "The Lancet" geht von Hunderten dadurch vermiedenen Todesfällen aus. Ein Wundermittel ist die Arznei aber nicht, auch das betonen Ärzte. Sprühstöße in die Nase machen den Notarzt nicht überflüssig. Denn das Medikament hebt die Opioid-Wirkung nur kurzzeitig auf und kann Entzugssymptome auslösen. Es kann aber eine Schädigung des zentralen Nervensystems und den Tod verhindern.
Obwohl das Medikament auch hierzulande seit Jahrzehnten bekannt ist, ist es nicht aus der Nische herausgekommen. Bislang haben es Notärzte zur Hand. Und manche Konsumenten bekommen nach einer Schulung von Suchthilfe-Organisationen ein Notfall-Kit ausgehändigt. Etwa beim Berliner Verein Fixpunkt, wo 1998 der erste Modellversuch begann - mit durchweg positiven Erfahrungen, wie die Ärztin Kerstin Dettmer sagt. Missbrauchspotenzial habe der Stoff nicht.
Pro Jahr würden maximal 500 bis 700 Kits an Abhängige verteilt, schätzt Dirk Schäffer von der Deutschen Aids-Hilfe - "ein Tropfen auf den heißen Stein". In deutschen Drogenkonsumräumen sei Naloxon im Vorjahr 94 mal verwendet worden - Todesfälle seien auch deshalb nicht zu verzeichnen gewesen. Wie oft das Mittel insgesamt genutzt wird, wird nicht erfasst.
Der Einwand, dass mit dem Verbreiten des Medikamentes auch ein riskanterer Konsum befördert werden könne, lasse sich nicht ganz von der Hand weisen, sagt Schäffer. Es sei jedoch von Einzelfällen auszugehen. Mehr Gewicht hat für ihn das Argument, dass sich viele tödlichen Überdosen verhindern lassen. Angesichts des gut ausgebauten Hilfesystems hierzulande sei das Niveau an Drogentoten "unerträglich hoch" - mehr als 1.270 Fälle waren es 2017 insgesamt.
Eigentlich müsse in jedem Haushalt, in dem Opioide konsumiert werden, ein Notfallmedikament bereitstehen, sagt Ärztin Kerstin Dettmer. Dirk Schäffers Vorstellung geht in eine ähnliche Richtung: "Es braucht einen bundesweiten, öffentlich geförderten Ansatz zur Einführung von Naloxon in mehreren Städten, mit Training für die Nutzer." Damit Naloxon hierzulande breiter und auch von Laien eingesetzt werden kann, müsse zudem die Verschreibungspflicht aufgehoben werden.
Bislang dürfen Ärzte das Medikament nur Opioid-Konsumenten verschreiben, nicht aber potenziellen Ersthelfern wie Angehörigen, Sozialarbeitern oder Pflegekräften. Dabei liegt es in der Natur der Sache, dass man sich bei einer Überdosis nicht selbst helfen kann. Eine wichtige Voraussetzung für einen Naloxon-Einsatz wäre nach Daten des Instituts für Therapieforschung München durchaus gegeben: Bei fast jeder dritten Opioid-Überdosis gebe es einen Rettungsversuch, in fast jedem fünften Fall seien Dritte anwesend.
In Bayern soll der auf zwei Jahre angelegte Modellversuch nun mehr Klarheit zu Naloxon als Nasenspray bringen, wie der Regensburger Suchtforscher Norbert Wodarz erläutert. Er begleitet den Versuch wissenschaftlich und rechnet mit einer Spray-Abgabe an bis zu 600 Menschen in mehreren Städten. Das seien deutlich mehr als in früheren Modellversuchen. Kommt das Produkt nicht rechtzeitig auf den Markt, soll es für den Anfang aus den USA beschafft werden.
Wodarz sagt, er wolle unter anderem verschiedene mögliche Zielgruppen von Opioid-Abhängigen einschließen, um zu klären, ob es Gruppen gibt, die besonders von dem Spray profitieren. Daneben gehe es etwa um die Frage, wie eine möglichst große Verbreitung erreicht werden kann - ob also die Abgabe des Sprays an Konsumenten ausreicht.
Etwas tun müsse sich auch noch beim Preis für das Nasenspray, betont Dirk Schäffer. Gegenwärtig sei beim Hersteller ein Preis von 45 Euro im Gespräch. Das sei in etwa dreimal so viel wie beim bislang verfügbaren Produkt - und für Organisationen in der Suchthilfe nicht zu stemmen.