Multiple Sklerose: Stammzelltransplantation oder Medikamente? Logo of esanum https://www.esanum.de

MS: Stammzelltransplantation im Direktvergleich mit DMTs

Welchen Stellenwert hat die AHSCT angesichts der heute verfügbaren DMTs bei hochaktiver MS? Anlässlich des ECTRIMS-Kongresses präsentierte Daten helfen bei der Einordnung.

Therapielandschaft hat sich verändert 

In den vergangenen 20 Jahren kamen Stammzelltransplantationen (SCTs) vor allem als "salvage therapy" bei schlechtem Ansprechen auf andere Therapien zum Einsatz, insbesondere bei progredienter MS. Vor dem Aufkommen hocheffektiver DMTs (verlaufsmodifizierender Medikamente) war es im Grunde die einzige Option zur Therapieeskalation, ausgehend von der ersten Generation von Basistherapien. Heute aber haben wir eine große Auswahl von Therapien zur Verfügung und es gibt noch Wissenslücken in Bezug darauf, wie wir verschiedene Behandlungsmodalitäten in Abhängigkeit von klinischen, radiologischen und biochemischen Patientencharakteristika am effektivsten und sichersten einsetzen können, erklärt Kalincik in einem Interview.1 Eine HSCT will gut überlegt sein, gibt er zu bedenken: "Wir sprechen hier von einer signifikanten Chemotherapie mit potenziellen erheblichen Nebenwirkungen." Die therapieassoziierte Mortalität sei über die letzten Jahre bedeutend zurückgegangen, aber ein großer Teil der Behandelten, 50–60%, erlebe Nebenwirkungen.1 Vor der Empfehlung zu einer HSCT möchten wir uns daher vergewissert haben, dass sie der aktuellen Therapie überlegen ist.

Bisher mangelte es an Head-to-Head-Vergleichsdaten für die MS-Subtypen

"Dieses Jahr haben wir erstmals eine Datenlage, die nahelegt, dass es einen Unterschied gibt", so Kalincik. Die Daten stammten von Erkrankten mit RRMS aus sechs spezialisierten AHSCT-Zentren in 5 Ländern, die mit Patienten unter Fingolimod, Ocrelizumab oder Natalizumab aus dem 'MSBase'-Register gematcht wurden. Im Schnitt hatten die eingeschlossenen Patienten eine hohe Krankheitsaktivität (mit im Mittel > 0,9 Schüben im Vorjahr) und einen EDSS von 3–4. 

Die AHSCT war in Hinblick auf die Reduktion von Schüben besser als Fingolimod und vergleichbar mit Ocrelizumab und Natalizumab. Die AHSCT stand zudem in Verbindung mit einer höheren Erholungsrate von Behinderungen als Natalizumab.

Im Detail: im Vergleich zu 612 Fingolimod-Behandelten traten bei den 120 Stammzelltransplantierten weniger Schübe auf (HR 0,55; 95% KI 0,37–0,91). Das Risiko einer Behinderungsprogression unterschied sich nicht signifikant zwischen den beiden Kohorten, aber unter AHSCT war die Wahrscheinlichkeit einer Verbesserung der Behinderung größer (HR 2,62; 95% CI 1,46–4,72).

Die 606 Natalizumab-Behandelten schnitten hinsichtlich der Schubrate und des Risikos einer EDSS-Verschlechterung ähnlich ab wie die 116 AHSCT-Patienten. Auch hier ging die AHSCT mit einer höheren Rate an Verbesserungen der neurologischen Funktion einher (1,82; 1,19–2,78), insbesondere im ersten Jahr nach Behandlung. Dies ist bemerkenswert, da Natalizumab aus klinischen Studien für eine Erholung von der Behinderung bekannt ist. Im dritten und letzten Vergleich, zwischen 91 AHSCT- und 303 Ocrelizumab-Behandelten, war kein Unterschied hinsichtlich Schubrate, EDSS-Verschlechterung oder EDSS-Verbesserung feststellbar.2,3

AHSCT hinsichtlich Behinderungsprogress nicht besser als Natalizumab

Eine zweite, kleinere von Kalincik vorgestellte Studie unter Mitwirkung der gleichen Zentren verglich AHSCT (n = 39) und Natalizumab (n = 65) bei primär und sekundär progredienter MS (Ausgangs-EDSS 5,9, Alter Ø 36,8 Jahre, 36% Männer). In den ersten sechs Behandlungsmonaten zeigte sich kein Unterschied hinsichtlich der Schubrate oder der Wahrscheinlichkeit für Verschlechterung oder Verbesserung der Behinderung. Längerfristig entfernten die Gruppen sich jedoch voneinander: 2 bzw. 5 Jahre nach AHSCT erlebten 36% respektive 45% einen Behinderungsprogress (versus 22% zu beiden Zeitpunkten in der Natalizumab-Gruppe). In der AHSCT-Gruppe kam es bei 7,7% zu febrilen Neutropenien, bei 23% zu Serumkrankheit, 15% wurden intensivpflichtig und bei 92% traten nach der Entlassung Komplikationen auf, darunter 21 Infektionen. Es kam nicht zu Todesfällen. Für die Natalizumab-Gruppe fehlten vollständige Sicherheitsdaten.
Diese Ergebnisse kommen jedoch mit mehreren Caveats: neben der kleinen Stichprobengröße und der kurzen Nachbeobachtungszeit ist die fehlende Randomisierung ebenso zu berücksichtigen wie die Tatsache, dass weder für das Matching, noch für die Outcomes MRT-Daten zur Verfügung standen.4
 

Quellen:
  1. Tomas Kalincik. Choosing Between Stem Cell Transplantation or Fingolimod to Treat Highly Active MS. NeurologyLive (2022).
  2. Kalincik, P. T. Autologous hematopoietic stem cell transplantation versus DMTs. 271, 11761–11766 (2022).
  3. ECTRIMS 2022 – Oral Presentations. Mult Scler 28, 3–129 (2022).
  4. New Evidence Sheds Light on Stem Cell Transplantation for Progressive MS. https://www.medpagetoday.com/meetingcoverage/ectrims/101495 (2022).

    letzter Zugriff auf Websites: 10.11.22