Minocyclin, ein Antibiotikum, das aufgrund seiner antientzündlichen Eigenschaften u.a. zur Behandlung von Akne eingesetzt wird, könnte auch das Fortschreiten von Multipler Sklerose bremsen.
Das Antibiotikum Minocyclin verzögert möglicherweise den Ausbruch von Multipler Sklerose (MS). In einer im Fachmagazin "The New England Journal of Medicine" publizierten Studie erkrankten unter Minocyclin sechs Monate nach einem ersten Schub neurologischer Symptome halb so viele Patienten an MS wie unter Placebo. Nach 24 Monaten war der Schutzeffekt des Antibiotikums allerdings nicht mehr nachweisbar. "Die kanadische Phase-2-Studie bestätigt vorangegangene Untersuchungen, wonach Minocyclin die Entzündungsaktivität bei Multipler Sklerose womöglich hemmt. Für eine endgültige Aussage ist es aber noch zu früh", kommentiert die Neuroimmunologin PD Dr. Tania Kümpfel, Vorstandsmitglied des Kompetenznetzes Multiple Sklerose (KKNMS), die Ergebnisse. Der Nutzen von Minocyclin bei MS sei zurzeit noch nicht hinreichend belegt, um den Einsatz zu empfehlen, betont auch Prof. Dr. Reinhard Hohlfeld von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), Vorsitzender des Ärztlichen Beirats der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft, Bundesverband (DMSG).
Minocyclin, ein synthetisches Tetracyclin, gilt seit längerem als eine für die Multiple-Sklerose-Therapie interessante Substanz. Es kombiniert antientzündliche und antiapoptotisch/neuro-protektive Wirkungsweisen und ist auch aufgrund seiner einfachen oralen Anwendung und des nicht zuletzt vergleichsweise niedrigen Preises attraktiv. "Die Prüfung des als Antibiotikum zugelassenen Medikaments für die neue Indikation wurde von der kanadischen MS-Gesellschaft finanziert", so PD Dr. Kümpfel. "Es handelt sich um eine sogenannte Drug-Repurposing-Studie – verbunden mit der Hoffnung, Arzneimittelkosten senken zu können, sollte die Substanz sich bewähren."
Erste Hinweise, dass Minocyclin die Entwicklung einer Multiplen Sklerose verzögern könnte, hat das MS Study Team um Luanne Metz bereits auf der EctriMS-Tagung 2015 in Barcelona vorgelegt. Jetzt wurden die Ergebnisse einer randomisierten und placebokontrollierten Studie mit Beteiligung von insgesamt zwölf Zentren publiziert. Metz und Kollegen haben zwischen 2008 und 2013 analysiert, inwieweit Minocyclin das Risiko einer Konversion von "Klinisch Isoliertem Syndrom" (KIS) zur manifesten MS reduziert. KIS beschreibt eine erste Episode neurologischer Symptome, die durch Entzündungen und Myelinverlust an einer oder mehreren Stellen in Gehirn und Rückenmark charakterisiert wird. Menschen, die ein KIS erleben, können nachfolgend eine klinisch definierte MS entwickeln – dies geschieht aber nicht zwingend.
In die Studie wurden 142 Patienten eingeschlossen, die innerhalb der vorausgegangenen 180 Tage ein erstes, auf eine MS hindeutendes demyelinisierendes Ereignis erlitten hatten. 72 Studienteil-nehmer erhielten Minocyclin 100 mg 2x täglich, 70 Placebo. Die verblindete Therapie wurde entweder bis zur Diagnose MS oder bis zum Zeitpunkt von 24 Monaten nach Randomisierung fortgeführt. Der primäre Endpunkt war die Konversion zu einer MS, gemäß den McDonald-Kriterien von 2005 innerhalb von sechs Monaten nach Randomisierung. Sekundäre Endpunkte umfassten die Konversion zu einer MS innerhalb von 24 Monaten nach Randomisierung und verschiedene Parameter der Magnet-Resonanz-Tomographie (MRT) nach sechs und 24 Monaten. In der Placebogruppe fanden sich eingangs signifikant mehr Patienten mit einer Schubsymptomatik, assoziiert mit einer Rückenmarksläsion, und mehr Patienten mit kontrastmittelaufnehmenden Läsionen im MRT als in der Minocyclingruppe.
Das nicht adjustierte Risiko einer Konversion zu einer MS innerhalb von sechs Monaten nach Randomisierung war mit 33,4 Prozent in der Minocyclingruppe signifikant geringer als in der Placebogruppe mit 61,0 Prozent (Differenz 27,6 Prozentpunkte, 95 % Konfidenzintervall, 11,4 bis 43,9; p = 0,006). Nach Adjustierung entsprechend der Anzahl kontrastmittelaufnehmender Läsionen bei der initialen MRT-Untersuchung war die Differenz mit 18,5 Prozentpunkten immer noch signifikant (95 % Konfidenzintervall, 3,7 bis 33,3; p = 0,01). Nach 24 Monaten fand sich kein signifikanter Unterschied mehr zwischen den beiden Gruppen. Alle MRT-Parameter fielen zum Zeitpunkt sechs Monate in der Minocyclingruppe besser aus als in der Placebogruppe, diese Effekte waren zum Zeitpunkt 24 Monate ebenfalls nicht mehr vorhanden. Bezüglich der Anzahl von Schüben und der Behinderungsprogression, gemessen am expanded disability status scale (EDSS), ergaben sich nach 24 Monaten keine signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Gruppen. In der Minocyclingruppe beendeten mehr Patienten als in der Placebogruppe die Studie frühzeitig wegen Minocyclin-assoziierten Nebenwirkungen, u. a. Hautausschläge, Schwindel und Zahnverfärbungen.
Die Studie habe – wie sowohl von den Autoren als auch im begleitenden Editorial von Zongqi Xia und Robert Friedlander angemerkt – erhebliche Schwächen, urteilen die MS-Experten von DGN, KKNMS und DMSG. Erstens war die Zahl der Patienten mit 142 gering ("under-powered"), was möglicherweise erklärt, warum die nach sechs Monaten beobachteten positiven Effekte nach 24 Monaten nicht mehr signifikant waren. Zweitens ist der Zeitraum von sechs Monaten bis zum Erreichen des primären Endpunktes (Konversion von KIS zu MS) im Vergleich zu anderen Studien sehr kurz. Drittens gab es Ungleichgewichte in der Zusammensetzung von Verum- und Placebogruppe.
Viertens war wegen der in der Minocyclingruppe häufigeren sichtbaren Veränderungen an Zähnen und Haut die Verblindung nicht vollständig, ein auch bei anderen MS-Studien immer wieder diskutiertes Problem. Ein weiteres Problem kann die Langzeiteinnahme eines Antibiotikums mit potentieller Resistenzentwicklung von Bakterien sein. "Mögliche Effekte von Minocyclin auf Schubrate und Behinderungsprogression können aufgrund der kleinen Patientenzahl und kurzen Dauer mit dieser Studie nicht beantwortet werden", fasst Prof. Dr. Hohlfeld zusammen. "Die Wirksamkeit von Minocyclin bei MS und damit die Möglichkeit, es als Alternative zu anderen immunmodulatorischen Therapien zu nutzen, muss jetzt in einer größeren und längeren klinischen Studie belegt werden."