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Menschen werden bei Hunger nicht egoistischer

Internationale Studienreihe mit Beteiligung Gießener Psychologinnen und Psychologen widerlegt weitverbreitete Annahme.

Eigener Egoismus wird überschätzt

Internationale Studienreihe mit Beteiligung Gießener Psychologinnen und Psychologen widerlegt weitverbreitete Annahme.

Hunger ist ein unangenehmer Zustand. Man wird garstig und gereizt, und je länger man nichts isst, desto tiefer sinkt die Laune. Da liegt es doch auf der Hand, dass Hunger auch egoistisch macht – oder nicht? Ist jemand, der hungrig ist, wirklich so sehr auf seine eigenen Interessen bedacht, wie einige psychologische Studien und Befunde nahelegen? In einer aufwändigen Studienreihe ist ein internationales Team von Psychologinnen und Psychologen aus Gießen, Hildesheim, Bamberg, Amsterdam und Oxford dieser Frage systematisch nachgegangen. Von der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) war die Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Jan Häusser, Professur für Sozialpsychologie, beteiligt. Die Erwartung des Forschungsteams bestätigte sich dabei nicht: Hunger führte nicht zu gesteigertem Egoismus.

Für die experimentellen Studien wurden die Versuchsteilnehmerinnen und Teilnehmer angewiesen, mindestens zwölf Stunden vor Beginn der Untersuchungen nichts zu essen, sie kamen also sehr hungrig und mit einem niedrigen Blutzuckerspiegel in das Labor. Dort erhielt die eine Hälfte der Probandinnen und Probanden – die Kontrollgruppe – etwas zu essen, um eine schnelle Sättigung und einen hohen Blutzuckerspiegel zu erzeugen (z.B. zwei Becher Schokopudding). Die Experimentalgruppe blieb für den weiteren Versuch hungrig.

Studienteilnehmende sollten Geld und Essen aufteilen

Mittels verschiedener Aufgaben wurde dann ein mögliches egoistisches Verhalten untersucht. So bekamen die Teilnehmenden beispielsweise einen Geldbetrag von 10 Euro und konnten diesen zwischen sich und den anderen aufteilen. Bei anderen Aufgaben ging es darum, sich kooperativ zu verhalten, um dann gemeinsam einen höheren Gewinn zu erzielen. Manchmal gab es zudem die Möglichkeit, egoistisches Verhalten der anderen Probandinnen und Probanden zu bestrafen. Das Forschungsteam fand allerdings keine belastbaren Belege für egoistischeres Verhalten von hungrigen im Vergleich zu satten Teilnehmenden.

In einer weiteren Studie wollte das wissenschaftliche Team herausfinden, ob sich die egoistischen Tendenzen eher finden lassen, wenn nicht Geld, sondern Essen aufgeteilt werden sollte. Hierfür bauten sie einen Stand vor der Mensa der JLU auf und ließen Studierende, die entweder gerade in die Mensa gingen (also hungrig waren) und Studierende, die aus der Mensa kamen (also satt waren), Geld oder Essen (kleine Päckchen mit Studentenfutter) aufteilen. Wie in den anderen Studien fanden sich keine Belege dafür, dass Hunger egoistischer macht und zwar unabhängig davon, ob Geld oder Essen aufgeteilt wurde.

Weitverbreite Vermutung, dass bei Hunger 'wahres Ich' hervorkommt

"Obwohl akuter Hunger möglicherweise egoistische Impulse verstärkt, schlagen sich diese sich oft nicht im Verhalten nieder", so Prof. Dr. Jan Häusser. "Wir gehen davon aus, dass die sozialen Rahmenbedingungen – zum Beispiel mögliche Sanktionen oder der drohende Verlust von sozialem Ansehen – so stark sind, dass solche egoistischen Impulse ausgebremst werden."

Dass der Glaube an das egoistische Verhalten hungriger Menschen trotzdem weit verbreitet ist, zeigen die Autorinnen und Autoren in einer weiteren Studie. "Grundsätzlich neigen Menschen dazu, egoistisches Verhalten und egoistische Motive zu überschätzen", sagt Prof. Dr. Paul van Lange, Professor für Psychologie an der Vrije Universiteit Amsterdam (Niederlande), ein weiterer Autor der Studie. "Offenbar gehen sie davon aus, dass insbesondere bei knappen Ressourcen das 'wahre Ich' gezeigt und egoistischer gehandelt wird. Unsere Studien zeigen, dass dies zumindest für akuten Hunger nicht zutreffend ist."

Quelle:

Häusser, J.A., Stahlecker, C., Mojzisch, A., Leder, J., van Lange, P.A.M., & Faber, N.: Acute hunger does not always undermine prosociality. Nature Communications
DOI: 10.1038/s41467-019-12579-7