Auf dem 84. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie sprach Prof. Josef Hecken, Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesauschusses, über Probleme der Finanzierung medizinischer Innovationen und über mögliche Lösungsansätze
Zum wichtigen Thema "Innovation versus Kostendruck" hatte sich die DGK auf ihrem 84. Kongress einen wirklich Berufenen eingeladen, der klare Worte und eindringliche Beispiele fand: Prof. Josef Hecken, seit sechs Jahren Vorsitzender des G-BA.
In den letzten 30 Jahren gab es einen Anstieg der Krankenversicherungsbeiträge um 35 Prozent. Die Ausgaben der GKV stiegen im gleichen Zeitraum um 13 Prozent. Deshalb stellt sich für den G-BA-Vorsitzenden die Frage: Ist das ein Ausdruck einer Kostenexplosion? Oder ist der Anstieg der Beitragssätze anders zu erklären?
Die Ausgaben der GKV je Mitglied sind in den vergangenen 20 Jahren um etwa 58 Prozent gestiegen. Das Bruttoinlandsprodukt stieg in dieser Zeit um 53 Prozent. Der Referent schussfolgert: "Es hat keine Kostenexplosion gegeben!" Allerdings stieg die Finanzierungsgrundlage, nämlich die Gehaltsentwicklung der Beitragszahler, nicht im gleichen Maße, sondern nur um rund 30 Prozent.
Diese Entwicklung zwinge, darüber nachzudenken, was der Gesellschaft die Gesundheit wert ist. Die Frage sei, ob die Finanzierung der Gesundheit weiter über den Faktor Arbeit geregelt sein soll oder ob man sich nicht doch noch einmal einer Diskussion über die so genannte Kopfpauschale zuwenden soll - mithin einer einkommensunabhängigen Finanzierung.
Die Gesundheitsausgaben werden, wenn man sich die Entwicklung der Bevölkerung anschaut, wahrscheinlich weiter stark steigen. 2006 waren 26 Prozent der in der GKV Versicherten Rentner, sie haben 23 Prozent der Beiträge erbracht und 50 Prozent der Leistungsausgaben verursacht. Heute sind in der GKV knapp 30 Prozent der Versicherten Rentner, sie bringen nur noch 20 Prozent der Beitragseinnahmen und konsumieren 58 Prozent der Leistungen. Ein Problem, zumal das Defizit, das Rentner produzieren, mit jeder Absenkung des Rentenniveaus und der Beitragsbemessungsgrenze, weiterwächst. "Was der Rente nützt, schadet der GKV", spitzt Prof. Hecken zu.
Parallel dazu sehen wir immer mehr medizinische Innovationen. Der Referent zeigt am Beispiel der Onkologie, welche Probleme daraus erwachsen. Hecken dazu: "Bei den von uns bewerteten Onkologika aus den letzten vier Jahren war keine einzige First-Line-Therapie dabei, alle waren Second- oder Third-Line-Therapieoptionen, also nach einem Rezidiv einzusetzen. Das ist jene schwierige Lebensphase, in der der Tod wahrscheinlich in sechs, sieben oder acht Monaten eintritt. Wir haben bei diesen innovativen Wirkstoffen einen Zugewinn des medianen Überlebens zwischen drei und sechs Monaten gesehen. Und das bei außerordentlich bescheidener Lebensqualität", gibt der G-BA-Vorsitzende zu bedenken. Und er fügt kritisch hinzu: "Wenn überhaupt Daten zur Lebensqualität vorgelegt wurden. Regelhaft fehlen diese Daten." Dieser Zugewinn im medianen Überleben bei oft dramatischen Nebenwirkungen für Patienten zwischen drei und sechs Monaten kostet im Schnitt 100.000 Euro Jahrestherapiekosten. Hierüber muss weiter diskutiert werden.
Die Demografie hat eine ganze Reihe von Auswirkungen. Zum einen, weil wir multimorbider werden, zum anderen, weil es niedrigere Alterseinkünfte gibt und natürlich auch, weil Behandlungen mit weiteren medizinischen Fortschritten komplexer werden. Zudem wird auch die Personalrekrutierung immer schwieriger.
Wie gehen wir damit um, fragt Prof. Hecken. "Wir könnten es so machen wie in Großbritannien. Das heißt: Rationieren. Man könnte beispielsweise sagen, für ein gesundes Lebensjahr sind wir bereit, 27.000 Pfund zu bezahlen. Wer nachweisen kann, dass er mit einer Behandlung noch ein gesundes Lebensjahr gewinnen kann, der bekommt die Behandlung, wer nicht, dem sagen wir: entweder er hat das Geld auf dem Konto oder wir machen es nicht." Der G-BA-Vorsitzende beantwortet die Frage so: "Das ist eine Philosophie, die mit deutschem Sozialstaatsdenken in keiner Weise vereinbar ist. Eine so ausgestaltete Finanzierung würde dazu führen, dass praktisch niemand mehr eine Second-Line-Chemotherapie bekäme. Auch in Großbritannien wurde das nicht lange durchgehalten, die Behandlungen wurden über einen Onko-Fonds dann doch finanziert."
Deshalb wird nach Alternativen gesucht, um die Frage zu beantworten, wie Innovation in der Zukunft bezahlbar bleiben kann. Aus Sicht des G-BA braucht es eine stringente, abstrakt generelle Nutzen- und Methodenbewertung, die untersucht, ob das, was neu ist, auch tatsächlich etwas bringt. Denn nicht alles, was neu ist, sei auch innovativ und automatisch besser.
Damit stellt sich die Frage, kann das, was mit AMNOG für Arzneimittel festgelegt ist, auch auf Medizinprodukte übertragen werden? Prof. Hecken erklärt: eine CE-Zertifizierung hat überhaupt nichts mit einer Nutzenbewertung zu tun. Er stellt sich vor, auf europäischer Ebene ein Verfahren zu installieren, mit dem ähnlich wie bei der FDA in den USA vor der Zulassung, also vor der Erteilung der CE-Zertifizierung, ein Mindestmaß an Evidenz nachgewiesen werden muss. Denn in vielen Fällen ist das nach der Zulassung aus ethischen Gründen nicht mehr möglich. Eine randomisierte, verblindete Studie kann nur vor der CE-Zertifizierung erfolgen. Diese abstrakte, generelle Nutzen- und Methodenbewertung ist dem G-BA-Vorsitzenden ein zentrales Anliegen.
Zudem müsse ein stärkeres Augenmerk auf Diagnose- und Indikationsqualität gelegt werden. Prof. Hecken nennt ein Beispiel: "Es gab einen Aufschrei, als der G-BA die TAVI-Richtlinie erlassen hat. Jetzt gibt es einen neuen Kommentar der Kardiologen und Herzchirurgen, die gemeinsam die Herzklappentherapie optimieren wollen. Wenn ich das 1:1 übertrage, muss ich die TAVI Richtlinie sofort verschärfen, weil hier sehr dezidiert vom Vorhandensein einer Herzchirurgie gesprochen wird." Es sei ein guter Ansatz, Ausschlusskriterien für TAVI zu bestimmen, weil eine funktionierende Herzklappe einem multimorbiden Patienten in bestimmten Situationen überhaupt nichts bringt. "Aber wenn wir das diskutieren", führt Prof. Hecken aus, "das sage ich auch selbstkritisch, dann müssen wir im Finanzierungssystem auch darüber diskutieren, wie wir regeln können, dass derjenige, der im Einzelfall nicht mehr nützliche Interventionen eben nicht erbringt, im Honorarsystem nicht benachteiligt wird."
Bei einem 85-jährigen Prostata-Patienten sei doch die Frage, ob nicht "watchful waiting" die adäquate Therapieoption ist. Doch der Arzt, der sich so verhält, werde im heutigen System bestraft. Ein weiteres Beispiel: Es sei nicht in Ordnung, wenn zwar das Hohelied der Palliativmedizin gesungen werde, auf der anderen Seite aber diejenigen, die dem folgen, mit einem negativen Deckungsbetrag dastehen. Schlussfolgerung der G-BA-Vorsitzenden: "Hier bedarf es einer weiteren politischen Diskussion, wie finanzielle Anreize richtig gesetzt werden."
Prof. Hecken führt weiter aus: "Mir macht der neugeschaffene Paragraph 137h große Sorge. Auch ohne Zutun des G-BA könne er zu einer Innovationsbremse werden." Denn der Paragraph besagt: neue invasive Behandlungsmethoden, denen ein neues, wissenschaftlich-medizinisches Gesamtkonzept zugrunde liegt, dürfen im Krankenhaus nicht eingesetzt werden, bevor sie nicht beim G-BA durchgelaufen sind.
Prof. Hecken sieht das anders, er meint: "Methoden, bei denen wir wissen, dass sie nicht tödlich sind, müssen im klinischen Alltag erprobt werden. Evidenz kann man auch im Krankenhaus generieren. Man kann das Gefahren- und Risiko-adjustiert tun. Wenn wir erst eine Erprobungsstudie designen und sie europaweit ausschreiben, dann ist medizinische Innovation in Deutschland kaputt."
Am Ende wendet sich Prof. Hecken noch einmal AMNOG zu. "Wir haben etwa die Hälfte der Produkte ohne Zusatznutzen weggeschickt", erklärt er. "Das bedeutet nicht, dass sie keinen Nutzen haben. Sie sind nur nicht besser als die derzeitigen Vergleichstherapien. Immerhin sparen wir mit AMNOG 9 Milliarden Euro pro Jahr, die wir für andere Zwecke einsetzen können."
Aktuell kümmert sich der G-BA um die Notfallversorgung. "Alle Chest Pain Units werden an der Notfallversorgung teilnehmen, egal, ob ein Krankenhaus noch eine allgemeine Innere Abteilung oder eine urologische Abteilung hat. Auch alle stroke untis werden in die Notfallversorgung aufgenommen, sodass hier elementaren Bedürfnissen Rechnung getragen wird."
Wichtig im Sinne der Kosten sei jetzt, so Prof. Hecken, "dass wir bei der Auswahl von Leistungen für die qualitätsabhängige Vergütung möglichst zurückhaltend und bescheiden sind. Wir dokumentieren uns sonst zu Tode, ohne dass sich in der Versorgung irgendetwas verbessert." Auch in den USA sei man neuerdings von "pay for performance" nicht mehr so begeistert wie anfänglich, das habe sich nur noch nicht ganz zu uns herumgesprochen. Was es geben muss, betont der Referent, sind "Konzentration, Zentrenbildung und Mindestmengen".
Abschließend fasst der G-BA-Vorsitzende zusammen: "Wir können es schaffen, Innovationen auch in Zukunft zu finanzieren, wenn es uns gelingt, saubere Indikationen zu stellen, Patienten in vernünftiger Art und Weise zu diagnostizieren, wenn wir genau differenzieren, ob sie von einer Behandlung profitieren oder nicht, indem wir wesentlich stärker personalisieren. Das ist natürlich auch mit Kostensteigerungen verbunden, bietet aber Entlastungseffekte. Es geht darum, "eine Kultur der umfassenden Aufklärung in die medizinische Wissenschaft zu implementieren."
Weitere Beiträge und Experteninterviews finden Sie in den esanum Kongresshighlights von der 84. Jahrestagung der DGK.
Quelle:
Prof. Josef Hecken auf dem Symposium "Innovation vs Kostendruck", 5.4.2018, DGK-Kongress, Mannheim.