Dies zeigt eine retrospektive Studie (doi: 10.1200/JCO.2013.54.6119), die von Forschern am John Hopkins Kimmel Krebs Zentrum in Baltimore durchgeführt und im Dezember 2014 im Journal of Clinical Oncology veröffentlicht wurde. Das Forscherteam wertete Daten von insgesamt 20.063 Brustkrebspatientinnen aus acht unterschiedlichen Krebszentren in den USA für den Zeitraum von 1998 bis 2007 aus. Es zeigte sich, dass in der Gruppe innerhalb von 10 Jahren insgesamt 50 Patientinnen nach einer chirurgischen Therapie plus Bestrahlung oder Chemotherapie oder einer Kombination aus beiden eine Leukämie entwickelten. Das kumulative Risiko für die Entwicklung einer Leukämie innerhalb von 10 Jahren nach Behandlung läge bei 0,5%, wie die Forscher ermittelten. In vorherigen randomisierten klinischen Studien, die typischerweise nur mit einigen hundert Patienten durchgeführt wurden zeigte sich, dass ungefähr 0,25% der Patientinnen eine Leukämie als Spätfolge einer Chemotherapie entwickelten.
„Ein Risiko von 0,5% ist zwar weiterhin gering, aber doppelt so hoch wie wir bisher angenommen haben“, so Dr. Judith Karp, emeritierte Professorin für Onkologie an der Johns Hopkins Universität. „Die meisten Onkologen denken, dass das Risiko nur über einen kurzen Zeitraum nach der Therapie bestünde. Dass wir jedoch in den Ergebnissen über 10 Jahre keinen Mittelwert für das Risiko feststellen konnten und das Risiko zudem höher ist als bisher gedacht, war wie ein Weckruf.“
Die Studienergebnisse könnten im besten Fall Onkologen dazu bewegen, genauer über die Indikationsstellungen für adjuvante Chemo- oder Strahlentherapien bei Brustkrebs im Frühstadium nachzudenken, vor allem wenn die Patientinnen ein geringes Rezidivrisiko haben und die Therapie als Vorsichtsmaßnahme durchgeführt werden soll. Dr. Antonio Wolff, Professor für Onkologie an der Johns Hopkins Universität, hofft auf genau diesen Effekt, da sich Patientinnen und Ärzte sonst in falscher Sicherheit wiegen könnten. Eventuell profitieren die Betroffenen gar nicht von der Behandlung und werden trotzdem den Risiken schwerer Spätfolgen ausgesetzt. Behandlungspläne sollten für jede Patientin individuell unter Abwägung unterschiedlicher Risikofaktoren (u.a. Größe des Tumors, Lymphknotenstatus, HER2- und Östrogenrezeptorstatus, Alter) erstellt werden, denn nicht jeder profitiere von einer Behandlung.
Die Forscher bauten einen hypothetischen Fall in die Studie ein, der die Bedeutung der Ergebnisse veranschaulicht: eine 60-jährige Patientin wurde mit einem schnell wachsenden östrogenrezeptorpositiven Mammakarzinom in Stadium 1 diagnostiziert. Ihr statistisch ermitteltes Risiko, innerhalb der nächsten 10 Jahre an dem Karzinom zu versterben, lag bei 12,3%. Durch eine adjuvante Chemotherapie mit vier Zyklen ließe sich dieses Risiko um 1,8% senken, während gleichzeitig das Risiko eine Leukämie zu entwickeln, um 0,5% steigen würde.
In den USA empfiehlt das National Comprehensive Cancer Network in seinen Leitlinien die postoperative Chemotherapie für Stadium 1 Mammakarzinome nicht länger. Ob diese Überlegungen auch auf andere solide Tumorerkrankungen übertragbar sind ist unklar, da sich die Therapien sehr stark unterscheiden. Die gute Nachricht: die allermeisten Patientinnen mit der Diagnose “Brustkrebs im Frühstadium” überleben die Krankheit – auch langfristig.