Das Zentrum für unerkannte Krankheiten am Universitätsklinikum Gießen-Marburg hilft Patienten, deren Erkrankung kein Arzt diagnostizieren konnte. Zentrumsleiter Professor Jürgen Schäfer erklärt im esanum-Interview, warum vor allem Gespräche und Datenbanken zur richtigen Diagnose führen.
Es bedarf nicht immer einer schweren Krankheit, um Patienten verzweifeln zu lassen. Häufig sind es kleine Beschwerden, die sich über lange Zeit hinziehen. Völlig unerträglich werden diese Beschwerden für die Patienten, wenn sie bereits eine regelrechte Ärzte-Odyssee absolviert und verschiedenste Therapien ausprobiert haben, aber ihre Erkrankung trotzdem nicht verschwunden ist. In höchster Verzweiflung wenden sie sich an ihren Arzt mit der Bitte, den Fall an das Zentrum für unerkannte Krankheiten an der Uni-Klinik Gießen-Marburg zu überweisen.
Monatlich rund 80 Fälle von unerkannten Krankheiten betreut das interdisziplinäre Team, zu dem beispielsweise Spezialisten aus Pneumologie, Gastroenteorologie, Neurologie, Nephrologie, innerer Medizin, Psychosomatik und Radiologie gehören. esanum sprach mit Professor Jürgen Schäfer, dem Leiter des Zentrums. 2013 wurde er von der Techniker Krankenkasse und Bild am Sonntag als “Arzt des Jahres” ausgezeichnet. Er gilt in Anlehnung an den TV-Arzt als „deutscher Dr. House“, weil er Seminare für Studenten zu Fällen veranstaltet, in denen eine Diagnose nur schwer möglich erscheint.
Welche Kriterien muss eine Krankheit erfüllen, um als unerkannt zu gelten?
Üblicherweise haben die Patienten bereits mehrere Krankenhausaufenthalte hinter sich, darunter auch ein oder zwei in einer Universitätsklinik, ohne dass eine belastbare Diagnose erstellt werden konnte.
Welche „Fälle“ übernehmen Sie?
Im Moment nur diejenigen, die uns von Hausärzten oder Krankenhäusern zugewiesen werden. Eine Selbsteinweisung ist nicht möglich.
Wie sieht Ihre Vorgehensweise aus, um zu einer Diagnose zu gelangen? Welche Rolle spielt die Kommunikation mit dem Patienten?
Wie immer in der Medizin sind die Anamnese und das Patientengespräch ganz wesentlich für uns. Wir sichten die alten Akten und Arztbriefe und suchen nach Symptomen, die uns wichtige Hinweise geben können für das Gesamtbild.
Ihre Patienten haben meist eine lange Leidensgeschichte und Ärzte-Odyssee hinter sich. Was haben die behandelnden Ärzte vorher falsch gemacht?
Es wäre vermessen zu sagen, dass andere Ärzte etwas falsch gemacht haben. Wir machen nichts anderes als andere Ärzte auch. Wir haben nur den Vorteil, dass wir als Uniklinik einige weitere Untersuchungen anbieten können, die andere Kliniken so nicht haben. So haben wir zum Beispiel ein Marburger “ZuK-Screening-Panel” entwickelt, mit dem wir eine Vielzahl von Parasiten, Würmern, Bakterien und Viren aus Stuhlproben erfassen können, was gerade für Fernreisende eine große Hilfe darstellt. Zudem ist es immer so in der Medizin, dass man es oftmals leichter hat, wenn man später zur Diagnostik kommt und so bereits eine Vielzahl von durchgeführten Untersuchungen überschauen kann.
Eine wichtige Rolle in Ihrer Arbeit spielen medizinische Datenbanken. Welche Informationen vermitteln diese? Warum nutzen „normale“ Krankenhäuser nicht die offenbar vorhandenen Informationen?
Das ist richtig. Wir nutzen die üblichen Datenbanken wie Medline, Orphanet und Uptodate sehr intensiv. Auch Drug Interaction Programme sind für uns wichtig. Zudem baut unsere IT-Abteilung im Moment eine eigene EDV-Infrastruktur auf, mit der wir bei unseren Patienten nach bestimmten Kombinationen suchen können (wie Schmidt-Syndrom: = Hashimoto Thyreoiditis PLUS Nebennierenrindeninsuffizienz). Ich denke, die meisten Ärzte und alle Kliniken nutzen mittlerweile moderne EDV.
Was müsste sich im Medizinstudium oder auch in der praktischen Ausbildung eines Arztes ändern, damit mehr ganzheitlich gedacht wird? Welche Rolle kommt einem Hausarzt zu?
Letztendlich haben wir eine hervorragende Versorgung. Der Hausarzt kann und muss die seltenen Erkrankungen nicht diagnostizieren – das ist Sache von Universitätskliniken. Er muss nur erkennen, dass der Patient etwas Ungewöhnliches hat und muss dann eben eine Anlaufstelle an der nächstgelegenen Uni finden. Da sollten wirklich flächendeckend Zentren aufgebaut werden. Hier ist auch die Politik gefordert, die entsprechenden Strukturen zu schaffen.
Unerkannte Krankheiten können auch psychosomatische Ursachen haben beziehungsweise auf Hypochondrie beruhen. Wie erkennen Sie derartige Patienten?
Das ist tatsächlich eine große Herausforderung. Darum ist bei uns auch immer eine hervorragende Psychosomatikerin mit im Team.
esanum: Könnten Sie uns ein Beispiel nennen, bei dem die Ursache einer Erkrankung völlig unerwartet oder sogar trivial war?
Schäfer: Spannend war der Fall eines Patienten mit unklaren Rückenschmerzen. Er war beim Hausarzt, beim Orthopäden, beim Radiologen, beim Neurochirurgen und beim Krankengymnasten. Am Schluss bei uns. Da half bereits die Frage: WANN treten die Schmerzen denn auf. Weil dies immer nachts war, empfahlen wir ihm die Matratze zu wechseln, was ihm dann nach zwei Wochen von den Rückenschmerzen (bei durchgelegener Matratze) befreite.
Zentrum für unerkannte Krankheiten
Interview: Volker Thoms