Die Lebenserwartung der Bevölkerung hat in den letzten Jahren zugenommen, der Zahl älterer Menschen mit Mehrfacherkrankungen wächst stetig. Laut Prognosen wird der Anteil der über 60-jährigen Patienten auf Intensivstationen weltweit von zwölf Prozent im Jahr 2013 auf 21 Prozent in 2050 zunehmen und sich damit fast verdoppeln. "Die moderne Intensivmedizin steht vor großen Herausforderungen, die durch den demografischen Wandel bedingt sind", sagt Professor Dr. Uwe Janssens, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN) und Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Internistische Intensivmedizin am St.-Antonius-Hospital Eschweiler.
Wo früher in akuten Krisensituationen der Tod unvermeidlich war – beispielsweise bei Unfallopfern mit schwerwiegenden Verletzungen oder älteren, vielfach erkrankten Patienten – haben technologische und medizinische Fortschritte in Diagnostik und Überwachung neue Überlebensperspektiven geschaffen. Intensivmedizin ermöglicht das Fortführen des Lebens vieler Patienten mit lebensbedrohlichen Erkrankungen. Etwa durch Reanimation und künstliche Beatmung, Stabilisierung des Kreislaufs, Aufrechterhaltung der Stoffwechselfunktionen und durch die Gabe hochwertiger Medikamente. Nach Auffassung der DGIIN müsse bei allen Bemühungen stets auch der Patientenwille im Blick gehalten werden. Insbesondere, wenn das Überleben nur um den Preis einer dauerhaften schweren Einschränkung der Lebensqualität sichergestellt werden könne.
"In der Intensivmedizin kommt es immer wieder zu einer kompletten, teilweise unumkehrbaren Abhängigkeit des Patienten von lebensunterstützenden Apparaturen. In manchen Fällen wird die intensivmedizinische Behandlung nur mit schweren seelischen und körperlichen Defiziten überlebt – das kann für Patienten und Angehörige große dauerhafte Belastungen bedeuten", sagt Janssens. Intensivmediziner sehen sich häufig mit der Frage der Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit der weiteren Behandlung konfrontiert. Bei der medizinischen Indikation für eine Therapiefortführung komme dem Intensivmediziner und Behandlungsteam daher eine hohe Verantwortung zu. Der Patient mit seinen moralischen Werten, Wünschen und Lebensentwürfen sei innerhalb dieses Entscheidungsprozesses zu respektieren.
Intensivmediziner und Patienten oder stellvertretend Angehörige sind nach Auffassung der DGIIN als gleichwertige Partner zu betrachten, die gemeinsam ein sinnvolles und nachvollziehbares Therapieziel formulieren. "Das erfordert von Intensivmedizinern nicht nur einen hohen medizinischen Sachverstand, sondern auch juristische Kenntnisse, soziale Kompetenz, ethisch-moralisches Verständnis und gute Kommunikationsfähigkeit mit dem Behandlungsteam, Patienten und Angehörigen", betont Professor Dr. Reimer Riessen, Leiter der Internistischen Intensivstation des Departments für Innere Medizin am Universitätsklinikum Tübingen und Präsident der DGIIN.
Allerdings kann es im intensivmedizinischen Alltag vorkommen, dass der Patientenwunsch nicht immer eindeutig definiert ist oder sich im Verlauf einer Behandlung durchaus auch verändern kann. Janssens macht dies an einem konkreten Fall deutlich: "Beispielsweise kann das Leben im Rollstuhl von einem derzeit gesunden Menschen als nicht akzeptabel bewertet werden, dagegen kann derselbe Mensch im Falle des tatsächlichen Erlebens dieser Situation diese als durchaus lebenswert erfahren." Wenn aber aus Sicht des Patienten eine Weiterbehandlung sinnlos sei, könne sie nicht durch eine vermeintliche medizinische Hilfeleistungspflicht gerechtfertigt werden. "Dies entspricht juristisch dem Tatbestand einer strafbewehrten Körperverletzung", betont Janssens. Ist der Patient aufgrund seiner Erkrankung hingegen nicht mehr in der Lage, seinen Willen auszudrücken und liegt keine Patientenverfügung vor, müssen Angehörige, Bevollmächtigte oder Betreuer stellvertretend über die Fortführung der Intensivmedizin entscheiden.
Quelle: DGIIN