Dr. Dirk Heinrich, Bundesvorsitzender des NAV-Virchow-Bundes, Verband der niedergelassenen Ärzte Deutschlands, fordert im Interview mit esanum eine Entlastung der Ärzte von Verwaltungsaufgaben sowie eine bessere finanzielle Planbarkeit bei Praxisgründungen
Rund 10.000 niedergelassene Ärzte hat das Meinungsforschungsinstitut Infas für den „Ärztemonitor 2014“ im Auftrag der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und des NAV-Virchow-Bunds zu ihrer Arbeitszufriedenheit sowie ihren beruflichen Perspektiven befragt. Weit über 90 Prozent der befragten Ärzte sagen, ihre Arbeit mache ihnen Spaß, doch gerade Verwaltungsaufgaben würden die Arbeitszeit ansteigen lassen und zunehmend zu einer Belastung werden. Dr. Dirk Heinrich, Bundesvorsitzender des NAV-Virchow-Bundes, hält die zunehmende Verlagerung der Bürokratie von Seiten der Krankenkassen in die Praxen für nicht länger hinnehmbar.
esanum: Im aktuellen Ärztemonitor beklagt die Mehrzahl der befragten Ärzte, dass der Aufwand für Verwaltungsarbeiten zu groß und die Arbeitszeiten zu lang sind. Warum nehmen Bürokratie und Verwaltung so viel Zeit in Anspruch?
Heinrich: Die Kassenbürokratie ist heute die real existierende verdeckte Rationierung. Mit Anfragen der Kassen beim Arzt, warum dieses Medikament verordnet oder warum jener Patient so lange krankgeschrieben wurde, wollen die Kassen Einfluss auf das Leistungsgeschehen nehmen und vor allem: sparen! Inzwischen gibt es in Praxen über 400 Informationspflichten durch die Selbstverwaltung, wie die KBV kürzlich festgestellt hat. Der wöchentliche Aufwand für Verwaltung und Bürokratie ist laut Ärztemonitor seit 2012 von 7,8 auf 8,0 Wochenstunden gestiegen. Und das ist noch lange nicht das Ende der Fahnenstange: Jetzt versuchen die Kassen, ihre Verwaltungsaufgaben in die Praxen zu verlegen, wie das Beispiel Versichertenstammdatenabgleich beim Einlesen der elektronischen Gesundheitskarte in den Praxen zeigt.
esanum: Das Versorgungsstrukturgesetz ermöglicht unter anderem Aufgaben an nichtärztliche Fachkräfte zu delegieren. Welche Aufgaben sind das? Inwieweit entlastet das Gesetz Ärzte in der Praxis?
Heinrich: Viele Aufgaben werden heute schon in den Praxen delegiert und entlasten den Arzt, damit der mehr Zeit hat, sich den Patienten zu widmen. Das geht von der Blutabnahme über Routine-Hausbesuche bis hin zum Wundmanagement. Wir Praxisärzte bilden unsere Medizinischen Fachangestellten konsequent dafür aus. Auch ein Ausbau der Telemedizin mit Augenmaß kann entlastend wirken. Telemedizinische Anwendungen können eine Hilfestellung bei der Begutachtung eines Patienten sein. Letztverantwortlich bleiben aber ein Arzt und dessen persönlicher Eindruck des Patienten. Schließlich werden bei der Begutachtung eines zweidimensionalen Bildes alle anderen Sinne ausgeschaltet.
esanum: Welche Aufgaben müssen aus Ihrer Sicht zwingend bei Ärzten verbleiben?
Heinrich: Nun ja: ärztliche Leistungen sind nicht substituierbar; sie bleiben ärztliche Leistungen. Dabei stehen nicht nur berufsrechtliche sondern haftungsrechtliche Fragen im Mittelpunkt. Die nichtärztlichen Berufsgruppen schielen hierbei gerne auf mehr Verantwortung, meinen aber „Geld“. Sie haben nicht vor Augen, welche Risiken sie dafür übernehmen. Das Beispiel der selbständigen Hebammen hat doch gezeigt, wie es einer Berufsgruppe ergeht, der das Risiko ihrer Tätigkeit über die Haftpflichtprämien beinahe die eigene Existenz entzieht.
esanum: Welche Änderungen der politischen Rahmenbedingungen wünschen Sie sich als Verband, damit die Arbeitsbedingungen für niedergelassene Ärzte verbessert werden?
Heinrich: Eines der größten Hemmnisse in der Niederlassung ist die fehlende finanzielle und wirtschaftliche Planbarkeit. Das wichtigste Ziel dafür ist das Erreichen von festen und kostendeckenden Preisen für unsere Leistungen. Hier hat die Techniker Krankenkasse kürzlich einen Vorschlag geliefert, der vom Grundsatz her gut ist, aber in den Details noch Fallstricke ausweist.
esanum: In verschiedenen Regionen herrscht ein Ärztemängel. In welchem Umfang hält die befürchtete Bürokratie Ärzte davon ab, sich mit einer eigenen Praxis niederzulassen?
Heinrich: Es ist weniger die Bürokratie, die den Nachwuchs davon abhält, in unterversorgte Regionen zu gehen. Es sind die strukturellen Bedingungen: Es fehlt der Kindergarten für die eigenen Kinder, es fehlt die Pflegeeinrichtung für die zu pflegende Mutter oder den Vater. Oftmals noch wichtiger: Es fehlt der Arbeitsplatz für den Ehepartner. Wir müssen uns daher an neue Versorgungsmodelle wagen: Mobile Versorgungskonzepte, also Ärzte, die aus den Ballungszentren zu festen Sprechstunden aufs Land fahren oder ein Ausbau von vernetzten Strukturen. Ärztenetze bieten hier eine echte Alternative, wenn sie mehr Möglichkeiten erhalten, beispielsweise selbst Ärzte anzustellen oder ein MVZ zu gründen.
esanum: Neben der zu hohen Arbeitsbelastung fehlt vielen Ärzten finanzielle Planungssicherheit. Andererseits gehören Ärzte zu den gutverdienenden Berufsgruppen und auch die Honorare der niedergelassenen Ärzte steigen. Wie erklärt sich dieser Widerspruch?
Heinrich: Ärzte, die sich niederlassen, kommen aus der Klinik, oftmals als Oberärzte oder Chefärzte. Sie wollen ihr Arbeitsfeld und ihre Arbeitszeit selbst einteilen, sie wollen sich aber nicht finanziell schlechter stellen als bei einer garantierten 42-Stunden-Woche im Krankenhaus. Da hat sich im Krankenhausbereich in den letzten Jahren durch die Tarifverträge des Marburger Bundes viel getan. Nur das dem Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) zugrunde liegende Oberarztgehalt hat sich nicht weiterentwickelt und der Budgetdeckel besteht nach wie vor. Zudem muss sich das „Unternehmertum Praxisarzt“ auch entsprechend lohnen. Ein Arzt, der sich niederlässt, muss investieren und Kredite aufnehmen. Eine Kapitalrendite wird ihm jedoch nicht zugebilligt. Das ist schon ein wenig schizophren, wenn bei Privatkliniken 18 Prozent Umsatzrendite als normal angesehen werden, bei Praxisärzten jedoch nicht.
esanum: Die im Ärztemonitor befragten Ärzte sagen, ihnen fehlt ausreichend Zeit für Patienten. Diese wiederum müssen teilweise monatelang auf Termine bei Fachärzten warten. Wie ließe sich eine für beide Seiten akzeptable Situation erreichen?
Heinrich: Die Wartezeitenthematik ist sehr differenziert und wird von der Politik sehr pauschaliert dargestellt. Repräsentativbefragungen zeigen, dass wir generell kein Wartezeitenproblem haben sondern ein punktuelles Problem bei einigen Fachgruppen, weil es von dieser zu wenig Ärzte gibt. Das können auch die Krankenhäuser nicht auffangen, weil dort der Facharztmangel in der Regel genauso besteht. Dann haben wir eine „Komfort-Diskussion“ bei planbaren Untersuchungen. Generell gesehen bescheinigt uns die OECD die kürzesten Wartezeiten beim Praxisarzt und bei Operationen. Unsere europäischen Nachbarn hätten vermutlich gerne unsere Probleme. Wir sollten die Terminstellen bei den KVen einführen und evaluieren. Dann haben wir ein differenziertes Bild bei der Situation der Terminvergaben. Und dann – so prophezeie ich – ist auch die politische Diskussion tot.
Foto: Lopata/axentis – NAV-Virchow-Bund
Interview: Volker Thoms