Auf Geburtsstationen testen Ärzte und Pfleger eine Matratze mit Sensoren für Frühgeborene. Sie soll menschliche Nähe simulieren, wenn die Eltern nicht da sind. Ist das eine gute Idee?
"Pssst. Wir wachsen noch" steht an der Schiebetür der Frühchenstation im Berliner St. Joseph Krankenhaus. Beim Blick in den Brutkasten bekommt die kleine Warnung große Bedeutung. Baby Stefan kam am 19. Juni acht Wochen zu früh auf die Welt. Alles an ihm ist noch winziger und zarter als bei einem Neugeborenen nach rund neun Monaten - sogar die Windel hat Mini-Format. Neben Stefan sitzt seine Mutter Verena Kusmierek mit einer seltsam anmutenden Schildkröte aus Kunststoff auf dem Bauch. Sie gehört zu einer Erfindung für Frühchenstationen. Die Schildkröte lauscht und fühlt Körpergeräusche und Bewegungen der Mutter ab und überträgt sie per Funk auf eine bewegliche Gelmatratze im Brutkasten - digitales Hightech.
Stefan soll sich damit fühlen wie bei seiner Mutter auf Brust und Bauch. Doch da kann er zur Zeit nicht hin. Er hat Gelbsucht und bekommt mehrere Stunden am Tag eine Lichttherapie im Brutkasten. "Ich hoffe, er kann mich wenigstens so spüren", sagt Verena Kusmierek mit Blick auf die Schildkröte. Alle drei Stunden versucht die 37-Jährige bei ihrem Sohn zu sein, ihr erstes Kind. Wenn sie das nicht schafft, macht die Matratze weiter mit allem, was via Schildkröte programmiert wurde - sie simuliert Mamas Nähe - Atembewegungen oder Körperschall.
Die Berliner Klinik ist eines von bisher sechs deutschen Krankenhäusern, die diese Form von Bionik testen - Maschinen, die Phänomene aus der Natur auf Technik übertragen. Die Entwicklungsgeschichte klingt für Deutschland ungewöhnlich: Mechatronik-Ingenieur Raphael Lang und Designer Camilo Anabalon arbeiteten als Studenten in einer Stuttgarter Klinik. Dort baten Ärzte und Krankenschwestern sie, eine Verbindung zwischen Frühchen und Eltern zu erfinden, wenn letztere nicht bei ihrem Kind sein können. "Babybe" haben die Erfinder ihre Idee genannt. "Es steht für 'Be with your baby' - sei bei deinem Kind", sagt Lang.
Zu klein, zu leicht, zu unreif: Rund 60.000 Babys kommen in Deutschland jedes Jahr zu früh zur Welt, neun Prozent aller Neugeborenen. Babys wecken Emotionen. Thomas Schaible, Klinikdirektor an der Universitätsmedizin Mannheim, kann Zweifler verstehen. "Maschinen können Menschen nicht ersetzen", betont er. "Die Situation im Mutterleib kriegen wir nicht hin." Auch die liebevolle Berührung eines Neugeborenen, den Geruch von Haut, Körperkontakt - das kann Technik für ihn auch heute kaum simulieren.
Die deutsche Geburtsmedizin sei noch vor wenigen Jahrzehnten sehr technikgläubig gewesen, berichtet Schaible. "Wir haben uns auf die Brutkästen fokussiert. Und darüber vernachlässigt, die Mutter mit einzubinden." Der Anstoß, auch Frühgeborene heute auf die Brust der Eltern zu legen - Känguruhen heißt das - sei aus Kolumbien gekommen. Dort gab es nicht genug Brutkästen, aber die Nähe zur Mutter ließen die Frühchen besser gedeihen. Das ist heute auch wissenschaftlich erwiesen. Das alles will Schaible nicht zurückdrehen - aber vielleicht lasse sich das natürliche Prinzip ja ergänzen. Er ist nun einer der Leiter einer Studie zu "Babybe", die gerade beginnt.
Am Berliner Vivantes-Klinikum Neukölln sieht Chefarzt Rainer Rossi die Erfindung kritischer. Er hat sich gegen die Matratze entschieden. "Neben der intensivmedizinischen Behandlung ist für Frühgeborene nicht noch ein neues Gerät primär erforderlich", urteilt er. Es gehe vor allem um eine konsequente entwicklungsfördernde Pflege. "Das bedeutet die ganz frühe Förderung der Bindung zwischen Mutter und dem frühgeborenen Baby direkt nach der Geburt. Wann immer der Zustand des Kindes dies zulässt», betont er. «Viel Hautkontakt, viel Känguruhen, viel streicheln. Auch im Inkubator. Und vor allem viel Zeit und Ruhe."
2014 haben die beiden Start-up-Gründer die Zulassung für "Babybe" bekommen. "Dafür gab es eine Pilotstudie mit 15 Frühchen. Sie zeigten eine bessere Herzfrequenz und nahmen schneller zu", sagt Raphael Lang. "Aber das ist eine begrenzte Aussage und keine Evidenz." Die Techniker-Krankenkasse überzeugte die Idee des Erfinder-Duos. Sie finanziert nun die Studie mit, die den Nutzen von "Babybe" messen soll. Kliniken, die das Gerät für rund 15.000 Euro anschaffen, bekommen von der Kasse einen Zuschuss von 6000 Euro - und die Auflage, beim Test mitzumachen.
Bisher haben sich Krankenhäuser in Berlin, Hamburg, Braunschweig, Greifswald, Frankfurt (Main) und Mannheim dazu entschieden. Mit vier weiteren gibt es Gespräche. Geschaut wird unter anderem, wie sich Frühchen mit "Babybe" beim Kopfumfang und Körpergewicht entwickeln. Mit Ergebnissen aus Deutschland rechnet Klinikdirektor Schaible in rund zwei Jahren. Auch in Italien, der Türkei, Chile und China liefen zur Zeit Tests mit "Babybe", berichtet Erfinder Lang.
"Bei jedem neuen Medikament oder einer neuen Maßnahme erwarte ich einen wissenschaftlichen Wirksamkeitsnachweis – es reicht nicht, zu hoffen, dass es schon gut sein wird", sagt Kritiker Rossi. "Allein schon aus Gründen der Krankenhaushygiene sind wir zudem vorsichtig, neue Geräte im Inkubator zuzulassen."
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