Interview mit Dr. med. Cornelia Goesmann, Fachärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapie, über die Bedeutung von Hausärzten und internetbasierten Programmen in der Behandlung von Patienten mit psychischen Erkrankungen
Rund 250 Arbeitsunfähigkeitstage pro 100 Versichertenjahre sind laut DAK-Gesundheitsreport 2018 auf psychische Erkrankungen zurückzuführen. Die wirtschaftlichen Kosten betragen der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) zufolge rund 44 Milliarden Euro pro Jahr.
Häufig ist der Hausarzt erster Anlaufpunkt für Patienten mit psychischen Erkrankungen – nicht zuletzt da diese Erkrankungen mit körperlichen Symptomen einhergehen können, die medizinisch abgeklärt werden sollten, bevor eine psychische Störung diagnostiziert werden kann. Welche Rolle spielt der Hausarzt in der Versorgung von Patienten mit psychischen Erkrankungen? Wie lässt sich die Kooperation der Hausärzte mit Psychologen und Psychiatern optimieren? Was können onlinebasierte Therapieansätze leisten?
Diese Fragen hat esanum Dr. med. Cornelia Goesmann, stellvertretende Leiterin des DGPPN-Referats "Psychische Störungen in der hausärztlichen Versorgung", gestellt. Sie ist Fachärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapie in Hannover und Vorstandsvorsitzende der Bezirksstelle Hannover der Ärztekammer in Niedersachsen.
esanum: Welche Rolle spielen Hausärzte in der Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen?
Goesmann: Hausärzte spielen eine entscheidende Rolle: Sie sind in der Regel der erste Ansprechpartner für Patienten mit psychosozialen Problemen. Als langjährige Begleiter ihrer Patienten kennen sie deren familiäres und berufliches Umfeld und verstehen oft uneingeschränkt, was diese psychisch bedrückt. Meist sind Hausärzte auch diejenigen, die im Sinne einer Früherkennung bei einem ganz anderen Beratungsanlass erste Symptome einer psychischen Erkrankung entdecken, diese ansprechen und eine Behandlung vorbereiten können. Beispiel: Rund zehn Prozent der Patienten, die an einem beliebigen Tag die Hausarztpraxis aufsuchen, leiden an einer Depression. Hausärzte koordinieren darüber hinaus Diagnostik, Therapie und Langzeitbetreuung der Betroffenen.
esanum: Psychische Erkrankungen nehmen in ihrer Häufigkeit zu. Inwieweit werden Hausärzte während ihres Studiums, während der Facharztausbildung und in Weiterbildungen ausreichend auf Patienten mit psychischen Krankheiten vorbereitet? Was könnte besser laufen?
Goesmann: Hier hat sich Entscheidendes getan: Psychische Erkrankungen nehmen heute in der studentischen Lehre einen wichtigen Platz ein. In der Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin – allerdings nicht zum hausärztlichen Internisten – gibt es einen etwa 100-stündigen theoretischen Pflichtabschnitt 'Psychosomatische Grundversorgung', der angehende Hausärzte entsprechend inhaltlich vorbereitet.
esanum: Wie bewerten Sie die Zusammenarbeit zwischen Hausärzten, Psychologen und Psychiatern in der Praxis? Inwieweit findet eine Kooperation statt, beispielsweise um körperliche Beschwerden auszuschließen, wenn eine psychische Erkrankung deren Ursache sein könnte?
Goesmann: Wenn nötig funktioniert diese Kooperation bundesweit gut. Jeder Hausarzt hat sein 'Netzwerk' von Psychiatern und Psychotherapeuten, mit denen er so zusammenarbeitet, dass er schnell und oft ohne lange Wartezeiten Patienten, die eine rasche fachspezifische Behandlung benötigen, dorthin überweisen kann.
Auch andersherum findet vor Beginn einer Psychotherapie stets eine Rücksprache mit dem Hausarzt oder anderen Fachärzten statt, ob somatische Krankheiten bestehen oder gegen eine Psychotherapie sprechen.
esanum: In welchen Fällen sollte ein Hausarzt zwingend an einen Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie oder Nervenheilkunde überweisen?
Goesmann: Der Hausarzt sollte zwingend zum Spezialisten überweisen, wenn der Patient es wünscht, der Hausarzt selbst in einem Fall seine eigene Kompetenz als zu gering einschätzt und die Expertise eines Spezialisten benötigt. Außerdem wenn nach vier beziehungsweise spätestens sechs Wochen einer Behandlung beim Hausarzt keine Besserung der psychischen Symptome eingetreten ist.
esanum: Wie beurteilen Sie das Potenzial von Online-Therapien und internetgestützten Interventionen im Bereich psychischer Erkrankungen? Inwieweit ändert die auf dem Ärztetag beschlossene Lockerung des Fernbehandlungsverbots die Situation?
Goesmann: Online-Therapie-Angebote sowie internetbasierte und vor allem auch qualitätsgeprüfte Angebote für die hausärztliche Praxis zur Mitbetreuung psychisch Kranker gibt es inzwischen in großer Zahl. Sinn und Nutzen werden in Studien und Symposien stetig evaluiert und diskutiert.
Meine Meinung ist, dass geprüfte und von den Krankenkassen empfohlene oder sogar bezahlte internetbasierte Programme gut zur Überbrückung der Zeit bis zum Beginn einer Psychotherapie oder als Nachsorgeprogramme nach einem ambulanten oder stationären Setting genutzt werden. Hier gibt es speziell auf die Hausarztpraxis zugeschnittene Angebote, bei denen der Arzt oder die Praxismitarbeiterinnen regelmäßig die Fortschritte des Patienten überprüfen und begleiten sollen.
Die nun erlaubte 'Fernbehandlung' von Patienten kann keine herkömmliche 'Face-to-Face-Psychotherapie' ersetzen. Bei Online-Kontakten müssen immer persönliche Patienten-Arzt-Kontakte vorausgegangen sein. Denkbar wären hier Einzelberatungen bei auftretenden Problemen oder zur Nachsorge. Im Sinne der Datensicherheit würde ich aber von Therapie per E-Mail oder SMS abraten.
esanum: Wie können Hausärzte von der Lockerung des Verbots bei der Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen profitieren?
Goesmann: Hier kenne ich noch nicht die jetzt nötige fachspezifische Diskussion zum Thema. Da Ärzte mit den Daten ihrer Patienten sehr sensibel umgehen müssen und dies gerade bei psychisch Kranken extrem wichtig ist, würde ich selbst jeglichen E-Mail- und SMS-Verkehr über medizinische Fragen mit diesem Patientenkreis aus Datenschutzgründen abblocken und ablehnen.