Weit mehr als 300 Milliarden Euro werden alljährlich im deutschen Gesundheitswesen umgesetzt - ein Riesenmarkt. Mit der zunehmenden Verbreitung der Telemedizin könnten von IT-Riesen wie Google gesponsorte US-Firmen auf den deutschen Gesundheitsmarkt vordringen.
In Deutschland wird in diesem Jahr voraussichtlich die Telemedizin liberalisiert - und damit könnte dem deutschen Gesundheitswesen ein scharfer Wettbewerb zwischen Start-ups und großen IT-Konzernen wie Google bevorstehen. "Der Vorstand der Bundesärztekammer wird den Delegierten des Deutschen Ärztetags in Erfurt im Mai eine Öffnung des sogenannten Fernbehandlungsverbots vorschlagen", sagte Franz Bartmann, Vorsitzender des Ausschusses Telemedizin der Bundesärztekammer. Den Prüfauftrag dazu hatte der Ärztetag im vergangenen Jahr erteilt.
Das Fernbehandlungsverbot besagt, dass Ärzte neue Patienten nur nach persönlichem Gespräch behandeln dürfen. Dementsprechend können Patienten sich nicht per Videosprechstunde von einem Arzt beraten lassen, bei dem sie zuvor noch nicht in Behandlung waren.
Vorbild für eine Lockerung ist Baden-Württemberg. Dort hat die Landesärztekammer zwei Modellprojekte genehmigt, mit denen Ärzte auch unbekannte Patienten online beraten dürfen. Der Hintergrund: In vielen ländlichen Regionen nähert sich die Mehrheit der niedergelassenen Ärzte dem Pensionsalter, Telemedizin könnte ein geeignetes Mittel sein, die Auswirkungen des in wenigen Jahren zu erwartenden Ärztemangels abzumildern.
Beteiligt an dem Modellversuch ist das Münchner Start-up Teleclinic, das über seine gleichnamige App Videoberatung bei mehr als 200 Ärzten vermittelt. "Das ist ein wahnsinnig umkämpfter Markt", sagte Teleclinic-Mitgründer Patrick Palacin kürzlich bei einem Pressegespräch des US-Konzerns IBM. "Deutschland ist so ein bisschen hinten dran."
Die Blicke richten sich vor allem auf die Vereinigten Staaten: "In den USA sitzen mit Doctor on demand und MDLive zwei IT-gesponsorte Mitbewerber von uns. In Doctor on Demand ist Google Ventures mit drin, bei MDLive ist Microsoft mit drin", sagte Palacin. "Wir sind nicht blauäugig, wir schätzen: Drei bis fünf Jahre, und Google kommt hier rein."
Allerdings gibt es auch Hindernisse für Google & Co. "Die Einzigartigkeit und Komplexität des deutschen Gesundheitswesens stellt eine hohe Eintrittshürde dar", sagte Felix Schirmann, Mediziner und Leiter des operativen Geschäfts beim Berliner Start-up Patientus, einem Portal für Online-Sprechstunden.
Schirmanns Antwort auf die Frage, ob ausländische Unternehmen in der Telemedizin auf den deutschen Markt vorstoßen werden: "ein klares Jein." Abgesehen von der Komplexität des hiesigen Gesundheitswesens seien es die Patienten in den USA anders als in Deutschland gewohnt, für die Behandlung zu zahlen. "Ich glaube aber, dass die großen ausländischen Technologiekonzerne durchaus interessiert sind. Am Ende werden die Patienten buchstäblich mit dem Smartphone abstimmen."
Eine offene Frage ist, ob und inwieweit die Patienten in Deutschland willig sind, Krankheits- und Gesundheitsdaten mit großen IT-Konzernen zu teilen: "Ein wichtiger Aspekt wird ferner sein, wie die Patienten bei Plattformen von Internet-Anbietern das Thema Datenschutz in diesem besonders sensiblen Bereich beurteilen", sagte der Telemedizin-Experte Bartmann von der Bundesärztekammer.
Schirmann geht fest davon aus, dass das Fernbehandlungsverbot gelockert wird, erwartet aber nicht, dass es künftig reine Online-Ärzte geben wird: "Videosprechstunden werden den traditionellen Arztbesuch ergänzen, aber nicht ersetzen."
In der Bundesärztekammer teilt Bartmann diese Einschätzung: "Die Einschränkung der Fernbehandlung gilt ausschließlich für Patienten, die zuvor keinen physischen Kontakt mit einem Arzt hatten." Deshalb sei auch kein sprunghafter Anstieg für Videosprechstunden nach Änderung der Berufsordnung zu erwarten. "Wichtiger als die abschließende Behandlung ist ohnehin die orientierende Beratung für Patienten."
Neben dem Fernbehandlungsverbot gibt es ein zweites Hemmnis für die deutsche Telemedizin: Ärzte können zwar seit vergangenem Jahr Bestandspatienten auch per Videosprechstunde beraten, aber diese Möglichkeit hat wegen niedriger Vergütung bislang keinen großen Widerhall in der Ärzteschaft gefunden.
"Seit Juli 2017 gibt es die Videosprechstunde als Kassenleistung, aber die Regelung hierzu bietet keinen Anreiz, sondern wirkt eher abschreckend", sagte Bartmann. Patientus-Manager Schirmann spricht sogar von einem "äußerst negativen Signal für die Telemedizin in Deutschland".
Nicht nur Ärzteschaft und Start-up-Manager gehen davon aus, dass das Interesse der Bürger an der Telemedizin steigen wird. In der Politik ist die Kritik an der Vergütung angekommen. "Insgesamt ist damit zu rechnen, dass Patienten zunehmend auch ihren Arzt nach telemedizinischen Angeboten fragen", sagte Bayerns Gesundheitsministerin Melanie Huml (CSU). Für den Arzt könne die Telemedizin die Patientenbindung sogar stärken, für die Patienten ermögliche das größere Flexibilität. "Dies erfordert jedoch entsprechende Abrechnungsmöglichkeiten, für die ich mich auf Bundesebene weiterhin einsetzen werde", sagte Huml.