Internetgestützte Therapieangebote können in der Psychiatrie dazu genutzt werden, Versorgungsnöte zu lindern und den Behandlungserfolg zu verbessern. Ärzte und Therapeuten werden dadurch nicht überflüssig.
In diesem Jahr wurde der Psychiatrie-Weltkongress gemeinsam von der World Psychiatric Association (WPA) und der DGPPN in Berlin ausgerichtet. Eine der spannendsten Sessions widmete sich im Pro- und Contra-Format der Frage: "Macht die Digitalisierung Ärzte und Therapeuten überflüssig?" Auf medizinischen Fachkongressen ist das Thema in diesen Tagen ein quasi obligater Programmbestandteil.
Deutschland hat dabei dringenden Nachholbedarf, gerade auch im Bereich der Psychiatrie. Denn die digitalen Angebote, von der einfachen Gesundheits-App bis hin zu komplexen Programmen für internetbasierte Psychotherapie, drängen nicht nur immer zahlreicher auf den Markt. In anderen Ländern, wie etwa Australien oder Holland, sind sie längst auch in der Regelversorgung angekommen. Dagegen mangelt es hierzulande bisher an einem strukturierten Vorgehen, um Qualitätssicherung, Transparenz und Finanzierung jenseits von Einzelprojekten sicherzustellen. Für die DGPPN ist deshalb der Bereich E-Mental-Health zu einem wichtigen Aktionsfeld geworden.
Worauf es dabei ankommt, erläutert Dr. Iris Haut, DGPPN-Pastpräsidentin und Kongress-Mitorganisatorin, hier im Interview mit esanum. Hauth moderierte auch die Pro- und Contra-Debatte, zusammen mit der klinischen Psychologin Prof. Christine Knaevelsrud (FU Berlin), die selbst zu internetbasierten Interventionen forscht.
Als Pro-Referent trat Prof. Martin Bohus (Mannheim) an, der die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) propagiert. Die Contra-Position nahm Prof. Harald Freyberger (Stralsund) ein, ein Vertreter der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie. Im verbalen Schlagabtausch wurde deutlich, dass der psychiatrische Digitalisierungsdiskurs noch mehr Sprengstoff enthält als das Für und Wider im Umgang mit den neuen technologischen Möglichkeiten: Es geht auch um gegensätzliche Grundhaltungen zur konzeptionellen Ausrichtung – und um das Selbstverständnis als Psychotherapeut und Arzt schlechthin.
Eine Cochrane-Analyse von 2016 beschäftigte sich mit der Therapeuten-geleiteten internetbasierten kognitiv-behavioralen Therapie (guided ICBT) bei verschiedenen Angststörungen. Ermittelt wurde eine Effektstärke (ES) von 1,12 im Vergleich zur Wartelistenkontrolle. Dieser hohe Wert entspricht der belegten KVT-Wirksamkeit im Face-to-Face-Setting.
Für die Metaanalyse wurden 38 hochqualitative RCTs ausgewählt, an denen insgesamt über 3.200 Patienten teilnahmen. Von den Studien stammten 18 aus Schweden, 14 aus Australien, drei aus der Schweiz, zwei aus Holland und eine aus den USA. Die am häufigsten untersuchten Diagnosen waren soziale Phobie und Panikstörung, die zusammen die Hälfte des Studienpools ausmachten.
Die ICBT ist auch bei anderen vorherrschenden psychischen Erkrankungen wirksam. Im Hinblick auf eine Verbesserung der primären Symptomatik wurden jeweils moderate bis hohe Prä-Post-Effektstärken nachgewiesen, etwa bei Posttraumatischer Belastungsstörung (ES: 0,95) und bei Depression (ES: 0,56).
Das ist gut für die Patienten, für die Therapeuten aber möglicherweise ein Problem: "Die Daten aus den Studien sind entsetzlich. Denn sie stellen unser Selbstbild infrage", analysierte Bohus schonungslos (und tiefenpsychologisch) die rezente Evidenz zur internetbasierten Psychotherapie. Der Grund: "Von 150 randomisierten kontrollierten Studien hat keine einzige einen Vorteil für die Face-to-Face-Therapie gegenüber der internetbasierten Intervention gezeigt". Die Dropoutraten waren ebenfalls vergleichbar und angesichts der hohen Varianz eher von der psychiatrischen Kondition abhängig als von der Intervention.
Ist also die Rolle des persönlichen therapeutischen Kontakts, auf den Freyberger in seinem Vortrag besonderen Wert legte, weniger wichtig sein als bisher angenommen? Hinsichtlich der Qualität der therapeutischen Allianz wurden laut Evidenz, die Bohus zitierte, keine signifikanten Unterschiede zwischen internetbasierter Intervention und ambulanter Behandlung beobachtet. Die Evaluation der online-therapeutischen Beziehungen fällt zwar durchgehend positiv aus, scheint sich aber nicht als verlässlicher Outcome-Prädiktor zu eignen.
Schaut man allerdings auf Studien, in denen das Therapieergebnis mit dem Ausmaß des therapeutischen Kontakts in Beziehung gesetzt wird, wird deutlich, dass die Behandlungseffekte mit der Häufigkeit des Kontakts der Patienten zu einem Therapeuten zunehmen. Entscheidend ist also, dass der Patient bei der Nutzung der digitalen Angebote nicht sich selbst überlassen bleibt. Für Bohus lautet die Anforderung an die eigene Fachgruppe folglich: "Das Know-how nicht über Bord schmeißen, aber adaptieren."
Knaeveslrud bekräftigte in der Diskussion, dass bei einer ungeleiteten Intervention eine schechtere Wirksamkeit und höhere Abbruchraten zu beobachten sind. Ohne jegliche Begleitung, etwa bei Apps, "machen die Patienten gar nichts". Ein klinisches Backup muss zudem gegeben sein, um bei Krisenauffälligkeiten reagieren zu können.
Freilich gibt es noch viel Forschungsbedarf, etwa zu den Wirkfaktoren der ICBT und zu den Behandlungspräferenzen. Und wie steht es mit der Anwendbarkeit im realen Klinik- und Praxisalltag, in dem es keine Selektion von Patientenpopulationen und Therapeuten gibt, dafür viel Heterogenität und Komorbidität? Immerhin bestätigen bisher mindestens 4 RCTs und 8 offene Studien die Wirksamkeit der ICBT im regulären klinischen Setting.
Dort wird eine Erweiterung des Angebotsspektrums – ob als Alternative oder als Ergänzung im Sinne von Blended Care – dringend benötigt. So vermuten die Experten, dass nur 20% der schwer depressiven Menschen in Behandlung sind und lediglich 10% der psychiatrischen Patienten mit evidenzbasierten Therapiemethoden erreicht werden. Die Schwierigkeiten liegen einerseits an einer mangelnden Verfügbarkeit, gerade in Flächenstaaten wie Mecklenburg-Vorpommern, worauf auch Freyberger hinwies.
Neben weiten Wegen und langen Wartezeiten ist die mangelnde Inanspruchnahme konventioneller Versorgung oft aber auch in der Scheu der Patienten begründet. Sei es wegen Scham, negativer Vorerfahrung oder dem Wunsch nach Autonomie, der laut Knaevelsrud als wichtigster Grund für die Nutzung von Internetlösungen genannt wird. "Drei Viertel der Menschen, die zuerst nie einen Psychotherapeuten sehen wollten, können es sich nach der Intervention vorstellen." Das ist eine Botschaft, die Mut zur Digitalisierung macht.
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