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Impfberatungspflicht in der Kinder- und Jugendarztpraxis - Gratwanderungen und Absturzgefahren

Die Impfberatungspflicht verlangt im klinischen Alltag dem Arzt viel Geduld und Zeit ab. Zeit, die das Gesundheitssystem eigentlich nicht zur Verfügung stellt und nicht vergütet falls die Impfung nach Beratung ausbleibt.

Der Pädiater zwischen Zeitmangel und Beratungsresistenz

Die Impfberatungspflicht ist nicht banal. Sie ist eine der Kernaufgaben in der Kinder- und Jugendmedizin. Die Impfberatungspflicht verlangt im klinischen Alltag dem Arzt viel Geduld und Zeit ab. Zeit, die das Gesundheitssystem eigentlich nicht zur Verfügung stellt und nicht vergütet falls die Impfung nach Beratung ausbleibt. Auch wenn es sich bei der Vergütung um einen Betrag unter 10 Euro für eine Impfung handelt, so steht das Wort "Interessenkonflikt" immer wieder im Kongressraum beim diesjährigen Berliner Kongress "Impfen: Selbstbestimmung oder Bürgerpflicht?" .

Das Gelöbnis der Genfer Deklaration des Weltärzteverbundes sagt, dass der Arzt die Autonomie und Würde seines Patienten respektieren soll. Gleichzeitig besagt es aber auch, dass der Arzt sich selbst nicht ausbeuten soll: "Ich werde auf meine eigene Gesundheit, mein Wohlbefinden und meine Fähigkeiten achten, um auf höchstem Niveau zu behandeln".1

Im klinischen Alltag reicht die Zeit für das Impfberatungsgespräch selbst wenn mindestens 30 min eingeplant wurden aus verschiedenen Gründen meist nicht aus. Es ist vorgesehen, dass der Kinder- und Jugendarzt in einem äußerst kurzen Zeitraum manchmal über mehr als 10 Impfstoffe beraten soll. Bleibt die Impfung aus, so wird er für seine Mühe und Zeit nicht entlohnt.

Eltern sollten sich vor dem Gespräch eigenständig informieren, um dann gezielt fragen stellen zu können. Viele Kinder- und Jugendärzte stellen hierfür Informationsbroschüren zur Verfügung. Problematisch wird das Ganze, wenn manche Eltern, die Impfungen generell kritisch gegenüber stehen die Impfberatungspflicht "auskosten" wollen. Die Anleitung, wie man das Impfberatungsgespräch in die Länge zieht und den behandelnden Arzt bloßstellen kann findet man auf der Webseite: www.impfen-nein-danke.de.

Hier ist ein Fragebogen (1.01: 33 Fragen an Ihren Impf-Arzt) mit insgesamt 33 Fragen, die darauf aus sind den Arzt zu diffamieren und im Gespräch gegen ihn zu triumphieren. Der Arzt soll Fragen wie folgt beantworten: "Sind Geimpfte aufgrund der Impfung gesünder als Impffreie? Mit welchen Untersuchungen planen Sie zu belegen, dass mein Kind die Impfung verträgt?" 2

Die Webseite wirbt mit Sprüchen wie "Mach die Ohren auf und höre wie sie lügen", "Chemiekriege gegen unsere Kinder stoppen! JETZT!" und "Der Minister ist eine Pharmamarionette". Sie schreiben "dass Impfen (....) eine Dummheit" ist.2

Es verwundert daher nicht, dass manche Kinder- und Jugendärzte Kinder von Impfgegnern nicht weiterbehandeln möchten und können. Erschwerend ist ein reger Arztwechsel durch Impfgegner nach Auflösung des Arzt-Patienten-Vertrauensverhältnisses. Problematisch ist das Ganze in pädiatrischen Praxen in Randbereichen, dort herrscht ein Aufnahmestopp für Wechsler.

Kinder von Impfgegnern stellen ein Risiko für die aus medizinischen Gründen nicht impfbaren Kinder in öffentlichen Einrichtungen dar. Wer übernimmt die soziale Verantwortung für die Kinder der Impfgegner und für die nicht impfbaren schwächeren Mitglieder unserer Gesellschaft?

Die Zukunft des Impfwesens muss keine "Entweder-Oder-Entscheidung" sein

,,Die größte Ursache für Impfversagen ist immer noch nicht zu impfen.“ 3

,,Der Erfolg eines Impfprogramms hängt letztlich wesentlich von der öffentlichen Akzeptanz und der Impfbereitschaft der Bevölkerung ab.“ 4

Eine effektive Herdenprotektion kann nur erreicht werden, wenn hohe Durchimpfungsraten (>85%) erzielt werden können. Der positive sekundäre Effekt stellt sich nach Jahren ein: Lebensbedrohliche Erkrankungen wie Polio, Diphtherie, Tetanus und Masern konnten in den letzten Jahren bis auf den Masernvorfall 1999 fast gänzlich verhindert werden.4,7 (Aktuelle Impfempfehlungen und Publikationen der STIKO sind immer online abrufbar, siehe Referenzen5,6 )

Für die Kleinsten unter uns ist die Herdenprotektion überlebensnotwendig. Vor allem Säuglinge, die aus Altergründen nicht geimpft werden können, haben nach Masern-Infektion ein deutlich erhöhtes Risiko im Verlauf eine SSPE zu entwickeln. SSPE bedeutet: Slow-Virus-Infektion mit neurologischen Ausfällen, Myoklonien, epileptischen Anfällen, Erblindung und Wachkoma bis hin zum Tod.

Einige Jahre nach dem tragischen Masern-Vorfall (zwei Kinder starben 1999 an einer subakuten sklerosierenden Panenzephalitis, nachdem sie in einem Arztzimmer von einem an Masern erkrankten Kind angesteckt wurden) sieht die Masernimpfquote im Landkreis Reutlingen - in dem Dr. med. T. Reckert praktiziert, wo sich dieser Fall zutrug - wie folgt aus: Nach Analyse der epidemiologischen Daten aus dem Jahr 2015 wurden 68% der 2-jährigen Kinder zweimal gegen Masern geimpft.

Bei den 5-jährigen sieht die Lage schon etwas besser aus. Hier sind 93% der 5-jährigen zweimal und 98,1% einmal gegen Masern geimpft worden. Das hört sich ja erst einmal nicht so schlecht an, doch bei genauerer Untersuchung zeigt sich, dass 10% der 5-jährigen Kinder gänzlich ungeimpft sind und weitere 10% nur eine einzige Masern-Impfung erhalten haben.

Es ist eine "Gratwanderung" für praktizierende Kinder- und Jugendärzte in Deutschland. Behandelt man die Kinder von Impfgegnern mit dem Risiko einer "Masernparty" im Arztzimmer weiter, oder schützt man lieber die immunschwachen oder für eine Impfung zu jungen Kinder? Die zuletzt Genannten haben ebenfalls das Recht auf körperliche Unversehrtheit.

Eines ist klar, fällt die Herdenprotektion weg, so werden Immunschwache und junge Kinder in Gefahr gebracht. Durch Impfen schützt man nicht nur sich selbst, sondern auch seine Mitmenschen.

Die soziale Verantwortung bleibt, auch wenn es den Impfgegnern scheinbar um ihr Recht zur Selbstbestimmung und um die Abwehr einer Impfpflicht geht.

Die Zukunft des Impfwesens muss keine "Entweder-Oder-Entscheidung" sein. Zwischen Pflicht und Selbstbestimmung liegt die Wahrheit für die Beteiligten irgendwo in der Mitte.

Referenzen:

1. http://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/International/Deklaration_von_Genf_DE_2017.pdf
2. www.impfen-nein-danke.de
3. Berufsverband der Kinder-und Jugendärzte e.V.
4. Zepp F. et al. (2016). Impfungen. Monatsschr Kinderheilkd (2016) 164: 972.
5. www.rki.de 
6. www.stiko.de
7. https://www.stern.de/nido/familienleben/familienleben-toedliche-masern-7161776.html