Die Charité und weitere vier Klinken, sowie über 140 niedergelassene Kardiologen und Hausärzte in Berlin/Brandenburg bieten Herzinsuffizienz-Patienten neuerdings eine "Rundum-First-Class-Betreuung", wie es Projektleiter PD Dr. David Leistner, Oberarzt an der Charité, im esanum-Interview formuliert.
esanum: Herr Dr. Leistner, mit 400.000 Fällen im Jahr ist die Herzinsuffizienz (HI) ein bedeutsamer Grund für eine Hospitalisierung. Dem gegenüber steht ein geringes Bewusstsein für diese schwere Erkrankung. Wie erklären Sie das?
Leistner: Bei vielen herrscht noch das Grundverständnis vor, dass Altern automatisch bedeutet, dass sich eine Herzschwäche entwickelt. So denken nicht nur Patienten, sondern auch manche Kolleginnen und Kollegen. Daher werden Beschwerden wie verminderte Belastbarkeit, Kurzatmigkeit, Leistungsdefizite als altersbedingt interpretiert. So werden die Symptome der HI häufig erst spät als das erkannt, was sie sind. Und die Diagnose wird entsprechend verspätet gestellt.
esanum: Was ist so gefährlich daran?
Leistner: Man muss die zwei Formen der HI unterscheiden. Zum einen entsteht sie, wenn das Herz nicht mehr gut pumpen kann. Das ist die systolische HI. Die führt zu Umbauprozessen, bei denen Muskelgewebe durch Bindegewebe ersetzt wird. In der Folge pumpt das Herz noch schlechter und wird noch größer. Das ist wie ein Circulus Vitiosus.
Die zweite Form ist eine Füllungsschwäche. Da hat das Herz Probleme, sich am Ende des Pumpens wieder ausreichend mit Blut zu füllen. Das ist die diastolische HI. Da steht die Fibrose ganz am Anfang und schreitet unbehandelt fort. Das ist häufig bei einem lange unbehandelten Bluthochdruck und bei Speichererkrankungen der Fall.
esanum: Wie häufig folgt die Hospitalisierung und wie hoch ist die Mortalität?
Leistner: Das Erfreuliche vorneweg: Über die letzten 20 Jahre hat sich die Mortalität signifikant verringert. Die Einjahresmortalität lag früher bei 12 bis 15 Prozent. Heute sind wir bei 3 bis 4 Prozent. Wir haben Patienten, die mit einer schweren Herzinsuffizienz gut 10 bis 15 Jahre leben können. Ein Teil der Patienten stirbt einen plötzlichen Herztod – auch das haben wir zurückgedrängt, indem wir Defibrillatoren implantieren.
Was wir aber erst in den letzten zwei, drei Jahren verstanden haben, ist die Tatsache, dass jede Dekompensation eine Verschlechterung der Herzfunktion nach sich zieht und damit eine schlechtere Prognose. Sehr gute Studien belegen, dass Patienten, die häufig dekompensieren deutlich kürzer leben. Daher ist die Vermeidung der Dekompensation in jüngster Zeit unser zentrales Ziel bei der Therapie der Herzschwäche geworden.
esanum: Gibt es neue Therapien?
Leistner: Wir haben heute sehr gute Medikamente. Vor drei Jahren kam eine ganz neue Wirkstoffklasse hinzu, die die Mortalität und auch die Hospitalisierung hochsignifikant reduziert: das sogenannte ARNI, eine Kombination aus einem Angiotensin-Rezeptor-Blocker und einem Neprilysin-Inhibitor. Wir haben auch sehr viel in Techniken investiert, die Dekompensationen vermeiden können. Es gibt in die Defibrillatoren integrierte Systeme, die warnen, wenn der Patient beginnt, Wasser einzulagern. Und bei ausgewählten herzschwachen Patienten implantieren wir einen kleinen Sensor in die Lungenarterie – ein ganz kleiner Eingriff von etwa fünf Minuten. Diese Drucksensoren kommen ursprünglich aus der Flugzeugtechnologie. Im Airbus stecken sie in den Tankleitungen und messen den Zufluss von Kerosin an die Triebwerke. Wenn etwas nicht stimmt, schlagen sie Alarm.
Das gleiche machen wir mit unseren Patienten. Sie legen sich einmal am Tag auf ein spezielles Kissen, das mit einem Satelliten verbunden ist. Der überträgt die Druckwerte an uns. So erkennen wir etwa eine Woche, bevor die Patienten Symptome entwickeln, dass sie drohen zu dekompensieren. Und dann können wir bereits eingreifen.
esanum: Wie viele der Sensoren sind bereits implantiert?
Leistner: Bei uns an der Klinik haben 16 Patienten den Sensor, bundesweit sind es etwas mehr als 200. Die Technik ist erst seit wenigen Jahren nutzbar und kostet im Moment noch um die 12 000 Euro. Doch im nächsten Jahr wird es eine GBA-Studie geben, um dieses System zu evaluieren. Studien haben bereits gezeigt, dass durch sie die Hospitalisierung massiv reduziert werden kann. Und nun wird analysiert, wie sich das finanziell abbilden lässt, also ob die Investition vielleicht sogar billiger ist als die Kosten der Hospitalisierung bei einer Dekompensation von ca. 5.000 Euro.
esanum: Welche HI-Anzeichen sollte jeder kennen und beachten?
Leistner: Jeder, der eine Kurzatmigkeit verspürt, die akut oder perakut entsteht, sollte das diagnostizieren lassen. Luftnot ist immer etwas, das man abklären muss, um zu sehen, ob eine Herzschwäche zu Grunde liegt. Auch Zeichen der Wassereinlagerung, Abgeschlagenheit, Inappetenz, insgesamt eine schlechtere Belastbarkeit – also eine Art Leistungsknick, wie wir sagen, müssen beachtet werden.
esanum: Wer trägt ein erhöhtes Risiko für HI?
Leistner: Einmal resultiert HI aus einer Durchblutungsschwäche. Alle Faktoren, die die Gefäße schädigen, erhöhen das Risiko: Diabetes, Bluthochdruck, Übergewicht, Rauchen, erhöhtes Cholesterin.
Auch die Genetik spielt eine wesentliche Rolle. In diesen Fällen sind die Gefäße häufig normal. Hinzu kommen Herzmuskelentzündungen, oft bei jüngeren Menschen, sowie Speichererkrankungen. Ein zunehmendes Problem sind Chemotherapien, die bei manchen Chemotherapeutika Herzschwäche als potentielle Nebenwirkung haben.
esanum: Sie bauen an der Charité ein Herzinsuffizienz-Netzwerk auf – mit welchem Ziel?
Leistner: Wenn Patienten dekompensiert in die Klinik kommen, wissen wir, dass rund 70 Prozent der Fälle hätten vermieden werden können – wenn die Patienten mehr über ihre Erkrankung und die entsprechenden Verhaltensweisen gewusst hätten. Das richtige Verhalten bei Herzschwäche ist sehr wesentlich. Bewiesen ist, dass eine gute Aufklärung und ein Schulungsprogramm on top das Überleben der Patienten verbessern, sowie Rehospitalisierungen reduzieren. Doch die Ärzte haben ein Problem: keiner hat mehr genug Zeit, den Patienten ausreichend zu schulen. Und deswegen haben wir uns Gedanken gemacht, wie wir das verbessern könnten.
esanum: Auf welche Ideen sind Sie gekommen?
Leistner: Als erstes haben wir das Personal dafür geschult. Das sind Herzinsuffiziensschwestern, die eine spezielle Weiterbildung bekommen haben. Damit sind diese dann qualifiziert, Patienten mitzubetreuen und zusammen mit den Ärzten Patienten in einem Kleingruppenformat zu schulen. Die Patienten bekommen fünf Termine a zwei Stunden. Dort werden das Krankheitsbild und Fragen dazu diskutiert. Dazu gibt es jede Menge Fakten zu Themen: wie erkenne ich eine Dekompensation, wie ernähre ich mich richtig, welcher Sport eignet sich für mich, was ist mit Sauna, mit Reisen? Das sind wesentliche Probleme der Patienten in denen unsere Tipps unmittelbar den weiteren Krankheitsverlauf der Patienten beeinflussen.
Zweiter Punkt: gemeinsam mit Sportwissenschaftlern bieten wir ein spezifisches Sport- und Bewegungsprogramm an – was nicht nur die Ausdauer- und Leistungsfähigkeit des Herzens stärkt, sondern auch Sturzprophylaxe beinhaltet. Schließlich haben wir viele ältere Patienten. Das Programm wird für jeden individuell angepasst.
Dritter Punkt: im Rahmen dieser Schulungen screenen wir konsequent nach Komorbiditäten - weil die Herzschwäche eine systemische Erkrankung ist, die insbesondere auch die Psyche und andere Organsysteme betreffen kann. Fast 60 Prozent der Patienten mit Herzschwäche haben eine manifeste Depression, häufig ohne es zu wissen. Sie sind schlecht belastbar, weil sie herzkrank sind, werden dann depressiv, sind noch antriebsloser, bewegen sich immer weniger. Das fällt in der Routineversorgung oft durchs Raster.
Der vierte Punkt ist der wichtigste: wir behandeln nach einheitlichen Algorithmen. Jeder Niedergelassene, jeder Hausarzt behandelt die Patienten gleich, mit dem gleichen Therapieziel. Und die niedergelassenen Kollegen haben die Möglichkeit, ihre Patienten unkompliziert zu uns zu überweisen, wenn sie dekompensiert sind oder drohen zu dekompensieren. Umgekehrt wissen wir, dass unsere Therapie auch bei den Niedergelassenen fortgeführt wird. Um das infrastrukturell zu unterstützen haben wir ein IT-System entwickelt, wo wir spezifische Informationen problemlos und datenschutzkonform austauschen können.
esanum: Wie viele Beteiligte schließt das Netzwerk ein?
Leistner: Fünf Berliner Kliniken. Knapp 20 kardiologische Praxen mit nachgeschaltet etwa 120 Hausärzten in Berlin und Brandenburg.
esanum: Wie weit ist das Projekt bereits gediehen? Und wie geht es weiter?
Leistner: Wir sind ein absoluter Vorreiter, ein Pilotprojekt. Viele kommen derzeit hierher und wollen sich Ideen holen. Das ist eine "Innovation made in Berlin". Und wir wünschen uns, dass es demnächst bundesweit so funktioniert. Der nächste Schritt ist, dass die Krankenkassen Mittel dafür zur Verfügung stellen. Bisher läuft das alles ehrenamtlich, weil wir überzeugt sind, dass unsere "first class-Versorgung" gut für unsere Patienten ist. Man muss schwerkranke Patienten in diese Netzwerkstrukturen einbinden - die Kosten sind am Ende locker refinanziert, wenn dadurch Komplikationen und Hospitalisationen vermieden werden.
Ein Beispiel: Eine Herzinsuffizienzschwester kostet ca. 60.000 Euro/Jahr. Für eine Dekompensation schlagen circa 4.000 Euro zu Buche, dann müsste sie gerade einmal ca. 15 Dekompensationen im Jahr vermeiden, damit die Kosten gedeckt sind. Und es gibt ja nicht nur direkte Kosten für die Versorgung der Patienten, sondern auch sekundäre Kosten wegen Arbeitsunfähigkeit und auch da würde sich das positiv auswirken.
Um den Nutzen wissenschaftlich zu belegen, begleiten wir die Patienten im Netzwerk mit einem Register. Wir sehen also künftig, wie häufig sie vor der Betreuung im Netzwerk in der Klinik waren und wie häufig danach. So werden wir in klaren Zahlen beweisen können, wie sich das Outcome unserer Patienten durch die Netzwerkbehandlung verbessert.