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Hausärztin mit Ohr fürs Detail: Achtsamkeit ist Schlüssel zum Erfolg

Auf dem Zi-Forum "Psychische Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen in der ambulanten Versorgung – Aktuelle und zukünftige Herausforderungen" am 20. November in Berlin sprach Frau Prof. Erika Baum über die wichtige Rolle der Hausärzte.

Familienmedizinischer Versorgungsalltag in einer ländlichen Hausarztpraxis

Auf dem Zi-Forum "Psychische Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen in der ambulanten Versorgung – Aktuelle und zukünftige Herausforderungen" am 20. November in Berlin wurden die aktuelle Versorgungslage von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen, die damit zusammenhängenden Problematiken sowie Perspektiven und Handlungsoptionen für die Praxis diskutiert, die thematisch im Fokus des Versorgungsatlas 2018 stehen. Frau Prof. Erika Baum, ehemalige Leiterin der Abteilung für Allgemeinmedizin der Uni Marburg und DEGAM-Präsidentin verdeutlichte in ihrem Vortrag anhand eines Fallbeispiels aus dem Versorgungsalltag die Rolle der Hausärzte in Bezug auf Diagnose, Therapie und Begleitung der Patienten.

Fallbeispiel aus der Praxis

Bei einem DMP-Termin erzählt die Großmutter der Familie, dass die Schwiegertochter meistens die Kontaktversuche der Großmutter mit der Enkelin im gleichen Haus unterbindet. Da sich die Arztpraxis auf dem Land befindet, kommen generell viele Familien mit ihren Kindern in die Hausarztpraxis, so auch in diesem Fall. Der nächste Besuch, zu dem die Enkelin gemeinsam mit der Mutter erscheint, findet anlässlich der U7a-Untersuchung statt – also am Ende des dritten Lebensjahres. Bei der Untersuchung sind bis auf eine sehr wählerische Nahrungsaufnahme keine Auffälligkeiten festzustellen. Da das Kind jedoch nicht untergewichtig ist, ergibt sich daraus zunächst keine Behandlungsnotwendigkeit. Dennoch wird die soziale Situation noch einmal genauer besprochen, und es stellt sich heraus, dass die Mutter, die bislang nur sehr selten in die Praxis gekommen war, an einer Zwangsstörung und Ängsten leidet. Die Ärztin realisiert hier durch die Hinweise der Großmutter und das daraufhin folgende Gespräch erstmals, dass es eine Problemsituation bei der Schwiegertochter gibt. Ebenfalls stellt sich im Gespräch heraus, dass das Kind bislang nicht in der Kita angemeldet worden ist, woraufhin die Ärztin auf die Wichtigkeit des Kita-Besuchs für die Tochter hinweist und der Mutter die Bedeutung eines sozialen Umfelds für das Kind außerhalb der Familie erläutert. Entgegen der ursprünglichen Pläne wird das Kind daraufhin in der Kita angemeldet und auch aufgenommen, und die Mutter willigt in eine Psychotherapie ein.

Die Situation hat sich insgesamt daraufhin stabilisiert, die Mutter hat in der Folgezeit zwei weitere Töchter geboren, deren Entwicklung unauffällig verläuft.

Das Verhältnis zwischen Hausärztin und Familie ist sehr vertrauensvoll. Gibt es akute Probleme, kann die Familie ihre Ärztin auch außerhalb der Dienstzeiten telefonisch zu Hause erreichen oder sie, wenn erforderlich, sogar zu Hause aufsuchen. Von dieser Regelung macht die Familie tatsächlich nur sehr selten Gebrauch, wenn ein Kind akut ist, was die Ärztin nicht als belastend empfindet. Es besteht ein regelmäßiger Kontakt zu allen Familienmitgliedern, einschließlich der Großmutter.

Die älteste Tochter entwickelt in der Pubertät eine starke Angststörung und Somatisierung in Form von Schwindel. In der Folge gibt es vielfache Kontakte und Gespräche, insbesondere mit dem Kind, aber auch mit den Eltern. Es dauert lange, bis die Motivation zur Psychotherapie hergestellt werden kann, und erst mit der zweiten Psychotherapeutin gelingt es, eine gute Beziehung aufzubauen. Passager benötigt die Tochter Psychopharmaka.

Mittlerweile hat sich die Situation für die Patientin gut stabilisiert, sie hat vor Kurzem ein Reitturnier gewonnen. Die ganze Familie wird jetzt in der gleichen Praxis vom Nachfolger betreut, hat jedoch für Notfälle die Handynummer der Ärztin, was einem Sicherheitsnetz gleichkommt. Dies wurde bislang nur einmal in Anspruch genommen.

Insgesamt lässt sich an diesem Fallbeispiel zeigen, wie wichtig der familienmedizinische Aspekt und der Zugang zu allen Familienmitgliedern in der ärztlichen Betreuung ist.

Selbstverletzendes Verhalten

Auch im Falle der steigenden Zahlen an selbstverletzendem Verhalten, die insbesondere Mädchen in der Altersgruppe von 13 bis 16 Jahren betreffen, ist der Blick auf das familiäre und soziale Umfeld von enormer Wichtigkeit. Hier ist erhöhte Aufmerksamkeit erforderlich, wenn Verletzungen oder Verletzungsspuren auftreten, unplausibles Verhalten auffällt oder es Hinweise auf chronische oder häufig rezidivierende Gesundheitsprobleme gibt. Selbstverletzendes Verhalten zeigt ein hohes Aufkommen von Komorbidität, das heißt, bei dieser Gruppe von Patientinnen gibt es eine sehr hohe Rate von Suiziden, Suizidversuchen, Alkoholproblemen oder anderen Vergiftungen und auch von Unfällen. Hier ist unbedingt bei Verdachtsmomenten genauer zu untersuchen, ob es sich möglicherweise um Fälle von Misshandlung oder Vernachlässigung handeln könnte, wie stabil das soziale Netz ist und wo welche gesundheitliche Versorgung innerhalb der Familie stattfindet.

Problem: Informationsverlust

Bei allen Problemen sollte die Familie zumindest mit bedacht und nach Möglichkeit bei der Lösung von Problemen mit einbezogen werden. Ideal ist es, wenn alle Familienmitglieder in der gleichen Praxis versorgt werden. Dies kann gegebenenfalls durch unterschiedliche Hauptansprechpartner geschehen, jedoch wird der kollegiale Austausch auf diese Weise gewährleistet und eine Fragmentierung der Informationen verhindert. Das Problem des Informationsverlustes ist in Deutschland massiv: Durch sehr schlechte Kooperation und Kommunikation zwischen verschiedenen Versorgungsebenen rutschen Patienten oft durch das Informationsraster – was teilweise durch einen sehr freien Zugang zu verschiedenen Ärzten und fehlende Koordination begünstigt wird. Hier zeigt sich ein strukturelles Problem. Ein flächendeckendes Einschreibemodell, das mit Überweisungen zur Weiterbehandlung an andere Kolleginnen und Kollegen arbeitet, könnte bei diesem Problem Abhilfe schaffen und würde Informationsfluss und Rückmeldungsraten verbessern. Für die Patienten könnten Bonifikationen einen Anreiz darstellen, sich einem solchen Einschreibemodell anzuschließen.

Versorgung psychischer Probleme, Transition und Vermeidung paralleler Brüche

Die Versorgung psychischer Probleme gelingt am besten aus einem guten Vertrauensverhältnis unter Kenntnis der familiären und sozialen Umgebung heraus. Bei sozialen Schwierigkeiten ist es wichtig, möglichst frühzeitig zu intervenieren, damit es nicht zu Vertiefungen der Problematik kommt. Die wichtige Kooperation mit Schulen gestaltet sich dabei häufig schwierig, da häufig überzogene Erwartungen bestehen und wenig Geduld für längerfristige Lösungen aufgebracht wird. Häufig sehen Ärzte, Therapeuten oder Betreuungspersonen sich seitens der Schule mit dem unrealistischen Wunsch nach schnellen Lösungen konfrontiert, die nicht angeboten werden können. Hilfreich können hier neben den Vertrauenspersonen auch neutrale Anlaufstellen sein, um den Dialog zu fördern. Wichtig ist, dass soziale Unterstützung und Zeit für Kommunikation angeboten werden. Ein Wechsel vom Kinder- und Jugendspezialisten zum Allgemeinmediziner sollte in einer stabilen Phase erfolgen. Bei Problemen wie ADHS bietet sich ein späterer Wechsel mit einer Übergangszeit der gemeinsamen Betreuung an, indem zum Beispiel die Grundversorgung durch den Allgemeinmediziner erfolgt, aber eine pädiatrische Mitbetreuung oder ein Konsilium weiterhin gegeben ist. Andere Störungen oder Erkrankungen erfordern hingegen einen eher frühen Wechsel, zum Beispiel im Grundschulalter, vor der Pubertät oder vor einem Schulwechsel. Wechsel sind immer dann ungünstig, wenn einschneidende Änderungen gleichzeitig stattfinden, wie eine Veränderung in der Ausbildungs- oder Wohnsituation. Lassen sich diese nicht vermeiden, ist eine gute Übergabe, sowie detaillierte Kenntnisse der Familiensituation und eventueller Vorerkrankungen hilfreich.

Quelle:

Zi-Forum „Psychische Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen in der ambulanten Versorgung – Aktuelle und zukünftige Herausforderungen“, 20. November 2018, Vortrag Prof. Erika Baum