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Geschlechterspezifischen Unterschieden in der Medizin auf der Spur

Interview mit Prof. Vera Regitz-Zagrosek, Direktorin des Instituts für Geschlechterforschung in der Medizin an der Charité in Berlin Die Entstehung und der Verlauf von Krankheiten können bei Männer

Interview mit Prof. Vera Regitz-Zagrosek, Direktorin des Instituts für Geschlechterforschung in der Medizin an der Charité in Berlin

Die Entstehung und der Verlauf von Krankheiten können bei Männern und Frauen sehr unterschiedlich sein. Insbesondere bei Herzinfarkt, Herzinsuffizienz aber auch bei Depressionen oder Rheuma gibt es deutliche Unterschiede. Die Berücksichtigung von geschlechterspezifischen Besonderheiten in der Medizin ist einer der Schwerpunkte des Instituts für Geschlechterforschung in der Medizin an der Charité. Im Interview erklärt die Direktorin des Instituts, Professorin Vera Regitz-Zagrosek, weshalb es insbesondere bei kardiologischen Erkrankungen Nachholbedarf in Behandlung und Forschung gibt. Beim Internationalen Kongress für Geschlechterforschung in der Medizin am 22. und 23. September 2015 in Berlin wird es deshalb unter anderem um die Frage gehen, ob Herzinfarkte bei Frauen unterdiagnostiziert werden.

esanum:  “Gender Medicine” ist ein noch recht neuer Fachbereich. Bei welchen Erkrankungen zeigen sich geschlechterspezifische Unterschiede? Wie äußern sich diese?

Regitz-Zagrosek: Fast in der gesamten inneren Medizin gibt es signifikante Unterschiede. Am bekanntesten sind Herzinfarkt und Herzinsuffizienz. Männer erleiden Herzinfarkte in jüngerem Alter als Frauen, aber wenn junge Frauen einen Herzinfarkt haben, sterben sie häufiger daran als gleichaltrige Männer. Frauen, die einen Herzinfarkt erleiden, werden immer jünger.

Bei Frauen wie Männern lösen Herzprobleme häufig Schmerzen in der Brust aus. Allerdings begleiten bei Frauen meist noch andere Beschwerden dieses Hauptsymptom. Bauch- und Rückenschmerzen, Übelkeit oder Erbrechen verschleiern die Diagnose. Häufiger als Männer erleiden Frauen zudem so genannte “stumme Infarkte”, die keine Beschwerden verursachen. Möglicherweise werden Infarkte bei Frauen unterdiagnostiziert, da bei den wichtigsten Biomarkern nicht beachtet wird, dass es geschlechtsspezifische Grenzwerte gibt.

Bei Männern finden sich vor allem frühzeitige Arteriosklerose größerer Gefäße. Treten bei jüngeren Frauen Herzprobleme auf, liegen die Störungen daher oft nicht in den größeren Gefäßen sondern in der Mikro­zirkulation. Das Problem: Mit einer gewöhnlichen Katheter-Untersuchung lässt sich keine seriöse Diagnose stellen. Dazu bedarf es weiterer Verfahren, beispielsweise einer Kernspin- oder Ultraschallunter­suchung oder einer Szintigraphie.

Bei der Herzinsuffizienz sind Männer vor allem schwerer von der systolischen Dysfunktion – einer Störung der Pumpfunktion – betroffen. Frauen eher von der diastolischen Dysfunktion, einer Dehnbarkeitsstörung.

Ein plötzlicher Herztod bei Sportlern betrifft fast ausschließlich Männer. Das männliche Herz scheint vor überschießenden Stressreaktionen schlechter geschützt als das weibliche. Frauen entwickeln bei extremem Stress häufiger die Stresskardiomyopathie (Tako Tsubo), ein lebensbedrohliches und schlecht verstandenes Syndrom, das bei circa 5-8 Prozent der Betroffenen tödlich verläuft.

Einige andere Herzerkrankungen, spontane Koronardissektionen, betreffen fast immer Frauen. Sie ereignen sich häufig unter Östrogeneinfluss zum Beispiel während oder nach der Schwangerschaft.

Depression und Autoimmunerkrankungen, Rheuma, Schilddrüsenerkrankungen und Multiple Sklerose treten ebenfalls häufiger bei Frauen auf. Das Immunsystem wehrt akute Infektionen bei Frauen anscheinend besser ab, richtet sich aber auch in überschießenden Reaktionen häufiger gegen den eigenen Organismus. Auch in der Abwehr von HIV-Viren gibt es signifikante Unterschiede.

Maligne Erkrankungen sind bei Frauen und Männern unterschiedlich häufig. Darmkrebs betrifft in höherer Zahl Männer. Inwieweit sich dies genetisch oder ernährungsbedingt erklären lässt, ist offen. Auch bei Lungenerkrankungen, Krebs und Asthma gibt es signifikante Geschlechterunterschiede.

esanum:  Sie sind Direktorin des Instituts für Geschlechterforschung in der Medizin an der Charité. Was sind Ihre Forschungsschwerpunkte?

Regitz-Zagrosek: Schwerpunkte sind Geschlechterunterschiede bei Herzerkrankungen – klinisch, in Bevölkerungsstudien, in Tiermodellen und in Zellsystemen.

esanum:  Einer Ihrer Forschungsschwerpunkte sind kardiologische Erkrankungen. Warum sind gerade hier geschlechterspezifische Unterschiede erkennbar?

Regitz-Zagrosek: Man hat ihnen als erstes Aufmerksamkeit geschenkt – vielleicht, weil sie lebensbedrohlich sind und die unterschiedlichen Symptome beim Herzinfarkt bei Männern und Frauen ein sehr einfacher und klarer Startpunkt waren.

esanum:  Inwieweit sind sich Haus- und Fachärzte geschlechtsspezifischer Unterschiede bewusst? Bereitet das Medizinstudium darauf vor?

Regitz-Zagrosek: Bei Haus- und Fachärzte ist das teilweise der Fall. Vieles ergibt sich eher empirisch und wurde nicht im Studium gelernt beziehungsweise. Das Erkennen der Unterschiede resultiert daher aus eigenen Erkenntnissen. Das stellen wir sehr oft in Diskussionen auf Fortbildungen fest. Nicht zuletzt deshalb besteht sehr großes Interesse an Kongressen.

In Deutschland befasst sich nur das Medizinstudium an der Charité mit geschlechterspezifischen Fragen. Hier gibt es eine Einführung für Erstsemester-Studenten, ein eigenes Modul “Geschlechtsspezifische Erkrankungen” und Genderaspekte in circa 100 einzelnen Veranstaltungen.  Andere Universitäten bieten höchstens Wahlfächer an.

esanum:  Die Erkenntnis, dass es Unterschiede bei bestimmten Erkrankungen zwischen Männern und Frauen gibt, ist eine Sache. Die Entwicklung von Medikamenten eine andere. Warum entspricht der Mann immer noch der Norm in der Medikamentenentwicklung? Selbst in Tierversuchen dominiert die männliche Maus.

Regitz-Zagrosek: Ja, leider. Es dominiert nicht nur die männliche Maus sondern die junge männliche Maus. Alte Männer werden ebenfalls nicht abgebildet. Diese Vorgehensweise sei einfacher, glauben viele Untersucher. Das stimmt aber nicht, denn die Variabilität innerhalb einer Gruppe weiblicher Mäuse ist trotz Zyklus nicht höher als bei männlichen. Und wenn es Unterschiede zwischen Männchen und Weibchen gibt, sollte man die ja beachten. Wir haben Fälle mit eklatanten Unterschieden, bei denen Substanzen bei Männchen lebensrettend sind, bei Weibchen aber gar nicht! (Melusin, Cardiovasc. Res. 2014, Tarone, Regitz-Zagrosek)

Das National Institutes of Health (NIH) aus den USA hat am 9. Juni 2015 proklamiert, dass Geschlechter in allen biomedizinischen Forschungsanträgen berücksichtigt werden sollen! So etwas bräuchten wir in Deutschland auch.

esanum:  Abgesehen von Schwangerschafts- und Stillphasen ist die große Mehrheit der Medikamente für Frauen und Männer zugelassen. Erwarten Sie, dass im Zuge einer personalisierten Medizin, Pharmaunternehmen ihre Medikamente stärker auf die Geschlechter abstimmen werden?

Regitz-Zagrosek: Ja. Eine weitere Optimierung der Pharmakotherapie in Bereichen, in denen sie schon sehr fortgeschritten ist, ist nur durch eine bessere Zielgruppenorientierung zu erreichen. Und das Geschlecht ist ein sehr leicht zu erhebender, gleichzeitig aber sehr starker Einflussfaktor.

esanum:  Werden Männer aus Ihrer Sicht in Deutschland besser versorgt als Frauen?

Regitz-Zagrosek: In einigen Fällen ist das so – beispielsweise bei Herz-Kreislauferkrankungen.  Bei Depression oder Osteoporose aber nicht. Beides gilt als „unmännlich“.

Interview: V. Thoms

Dr. Johannes erklärt Gender Medizin: