Diese Frage stellten sich auf dem Schmerzkongress Geriater, Psychologen und Gerontopsychiater auf einer gemeinsamen Session. Peter Mattenklodt, leitender Psychologe im Schmerzzentrum der Universitätsklinik Erlangen, gab Einblicke in ein vielseitiges Problem.
Mattenklodt definiert: Der über 70jährige, der eine geriatrische Multimorbidität aufweist. Oder auch der 80jährige mit der alterstypischen Vulnerabilität. Dazu gehören u. a. Gewichtsverlust, Muskelschwäche, Gangunsicherheit und eine reduzierte Aktivität. Bei den über 70jährigen haben mindestens ein Drittel fünf chronische Erkrankungen. Eine Studie zeigt, dass die Hälfte der Patienten fünf oder mehr Medikamente einnehmen. Man kann sich in etwa vorstellen, was das an Medikamenteninteraktionen auslöst, führt Mattenklodt aus.
Die Prävalenz von Schmerzen erhöht sich mit dem Alter. Das zeigt beispielsweise eine Studie, in der man versucht hat, die gesamte Bevölkerung der Stadt Herne zu erfassen. Der Anteil chronischer, limitierender Schmerzen steigt entsprechend im Alter. Dazu führen Krankheitsbilder wie Arthrose, Osteoporose, auch Diabetes und Polyneuropathie, ebenso postoperative Schmerzen.
Zugleich ist das ein Lebensalter, in dem es schnell zu einem Nachlassen der körperlichen Leistungsfähigkeit kommt, das bezieht sich auch auf sensitive und kognitive Fähigkeiten. Das Risiko einer Beeinträchtigung steigt mit der Schmerzintensität und der Zahl der Schmerzorte. Schmerzen und der damit verbundene Bewegungsmangel erhöhen das Risiko der Stürze, sowie die Angst vor Stürzen. Diese wiederum erhöht das tatsächliche Sturzrisiko. Denn Ängstlichkeit stört die Motorik. Ein Teufelskreis.
In Interviews hat sich gezeigt, dass Patienten am liebsten Anwendungen bekommen, die sie selbst machen können und die keine großen Veränderungen verlangen. Aber auch bei medikamentöser Therapie gibt es viele Ängste. Oft aufgrund falscher Informationen. Angemessene Versorgung mit Medikamenten ist aber ein wesentlicher Schutz vor Chronifizierung. Es gibt allerdings eine Medikamentenunterversorgung. Eine Studie in sieben europäischen Ländern hat die Schmerztherapie in Pflegeheimen untersucht. Sie besagt, dass in Deutschland ein Viertel derer, die mittlere bis schwere Schmerzen hatten, keine oder keine ausreichende Medikation bekamen.
Noch weniger beliebt bei den älteren Patienten sind Trainings- und Physiotherapie. Das hat mit Kosten und Erreichbarkeit zu tun. Aber es spielen auch oft Schuldgefühle gegenüber den Therapeuten mit, weil sich Patienten schämen, wenn sie in der Therapie nicht besser werden. In einer großen Studie wurden ältere Patienten gefragt, wie sie es fänden, wenn sie Bewegungstherapie bekämen. Ein klarer Trend zeigt, dass das mit zunehmendem Alter immer weniger positiv gesehen wird. Bei den über 70jährigen haben nur weniger als die Hälfte eine positive Einstellung zur Bewegungstherapie.
Eine entscheidende Rolle spielen Krankheitseinstellungen. Sie steuern Aufmerksamkeit und Verhalten. Nicht hilfreich sei zum Beispiel die Überzeugung: Schmerzen sind normal und gehören zum Alter. Deswegen reden manche gar nicht darüber. Sie berichten auch dem Arzt nicht davon. Damit geht ihnen eine Möglichkeit der Hilfe und Therapie verloren.
Forscher fragen sich auch: Wann ist Schmerzakzeptanz eigentlich gut und wann ist sie dysfunktional? Es gibt bei Älteren zwei Sichtweisen. Einerseits die Einstellung: ich versuche, so viel wie möglich gegen diesen Schmerz zu tun, um meinen Spielraum wieder zu vergrößern, fitter zu werden, die Muskulatur zu stärken. Andererseits gibt es – besonders bei Rückenschmerzpatienten - die Einstellung: der Schmerz ist das Zeichen einer Schädigung, zeigt also Gefahr an. Schlussfolgerung: diese Patienten schonen sich, bewegen sich möglichst wenig. Schonung verschlechtert aber die körperliche Fitness und richtet die Wahrnehmung immer mehr auf den Schmerz.
Diese Überzeugungen sind zwar im Alter seltener, aber wenn sie vorliegen, ist ihre Auswirkung besonders stark. Darum gilt es, derartige Angst-Vermeidungs-Überzeugungen zu erfassen, sie mittels Fragebögen messbar zu machen und bei der Therapie darauf einzugehen.
Bei manchen Patienten genügt die Information, dass sie keine Angst haben müssen, dass ihnen bei bestimmten Bewegungen nichts passieren kann, außer dass es vielleicht wehtut. Anderen, bei denen starke Emotionen mit der Angst verbunden sind, brauchen neue Erfahrungen, z.B. durch Physiotherapie.
Ein ganz anderes Problem ist überaktives Schmerzverhalten, also das Durchhalten über eigene Grenzen hinweg. Das ist erfahrungsgemäß ein ganz wesentlicher Punkt in der Generation, die das Zurückstellen eigener Bedürfnisse eingeübt hat. Diese Patienten ziehen etwas durch, legen keine Pause ein, trotz ihrer Schmerzen. Das ist insofern negativ, weil es die Aktivität mit mehr Schmerzen bestraft. Dahinter stecken jahrzehntealte Muster, die einer Patientin zum Beispiel nicht erlauben, Kartoffeln im Sitzen zu schälen, obwohl sie im Sitzen schmerzfrei ist.
Bei den Einstellungen spielen auch der Partner oder die Kinder eine Rolle. Sie sagen oft, schon dich doch. Auch problematisch: Der Partner kümmert sich immer dann besonders liebevoll, wenn der andere Schmerzen hat. Das führt zu einer stärkeren Schmerzreaktion. Manche Angehörige nehmen auch den Mut: Ist doch albern, wenn du jetzt noch Sport machst oder zum Psychologen gehst! Andere wiederum treiben an: das kann doch nicht sein, dass die bei dir nichts finden, du musst zu einem anderen Arzt gehen. Das alles kann zusätzlich belastend sein und in die falsche Richtung führen.
Auch die Einstellung des Therapeuten ist zu beachten. Eine deutsche Studie zeigt: Die Medikamentenverordnung nimmt mit dem Alter zu, die Verordnung von aktiven Therapien nehmen hingegen ab. Das Vertrauen fehlt offenbar, dass ein älterer Patient das schaffen kann. Wer selbst älter ist, hat positivere Einstellungen zu älteren Patienten. Wenn Ärzte selbst die Sorge haben, der Patient könnte stürzen, überträgt sich das negativ auf den Patienten.
Das Alter ist von vielen Einschnitten begleitet, erklärt Mattenklodt, daher ergibt sich die Frage, wie es mit der Depressivität im Alter aussieht. Der Erkrankungsgipfel bei Depressionen liegt genau wie beim Schmerz zwischen 50 und 60 Jahren, danach werden Depressionen seltener. Dafür erhöht sich die subklinische Depressivität. Die Schmerzforschung zeigt eindeutig, ist dass die psychosozialen Faktoren insgesamt eine große Rolle spielen. Für ältere Menschen ist das allerdings bei weitem nicht so gründlich erforscht.
Interessant ist: Es gibt eigentlich keinen Zusammenhang zwischen Schmerzstärke und Funktionsbeeinträchtigung - aber die Depressivität wirkt als Mediator. Das heißt, wenn ein Patient aufgrund der Schmerzen depressiv wird, dann ist seine Funktion stärker beeinträchtigt. Das belegen viele Studien, mithin kann das emotionale Wohlbefinden entscheidender sein als die Schmerzstärke selbst.
Berufliche Belastungen fallen zwar weg. Zumindest bei den Männern – denn Hausfrauen gehen nie in Rente, sagt man. Das gilt jedenfalls noch in dieser Seniorengeneration. Ein Stressfaktor ist daher eher der Verlust von Kollegenkontakten und die sinkende soziale Integration. Der Zusammenhang zwischen der sozialen Integration und Schmerzen wird als sehr eng beschrieben. Eine große amerikanische Studie hat nachgewiesen, dass die Erfahrung von Ausgegrenztsein in der Hirnstruktur jene Areale aktiviert, die auch bei Schmerzen aktiv sind.
Eine englische Studie zeigt, dass soziale Bindungen im Alter abnehmen, und dass das Risiko von Beeinträchtigungen durch Schmerzen steigt, je weniger Bindungen ein Patient hat. Ein Witwer hat demnach ein doppelt so hohes Risiko für Beeinträchtigungen durch Schmerzen wie jemand, der verheiratet ist. Das gleiche lässt sich auch für die Zahl der Verwandten und Freunde zeigen.
Forscher fanden zudem heraus, dass das Durchführen von bildgebender Diagnostik Einfluss auf die Chronifizierung von Schmerzen hat. Leitlinien geben vor, dass bei Rückenschmerz im Alter routinemäßig eine Bildgebung erfolgt. Ist das eigentlich berechtigt? Dazu gibt es viele Daten. In den USA stellte sich heraus: Wenn man innerhalb der ersten sechs Wochen eine Bildgebung gemacht hat, war die Therapie im nächsten Jahr deutlich teuer, aber es ging den Patienten nicht besser.