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Gendern in der Medizin: Weit mehr als geschlechtersensible Sprache

Sabine Hark ist Professor:in am Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung. Geschlechterforschung als kritische Ontologie der Gegenwart, Gender Policies, Queer Theorie, Geschlechtersensible Fachkultur- sowie Professions-, Institutionen- und Sozialisationsforschung sind dabei nur einige der Forschungsschwerpunkte.

Sabine Hark ist Professor:in am Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung. Geschlechterforschung als kritische Ontologie der Gegenwart, Gender Policies, Queer Theorie, Geschlechtersensible Fachkultur- sowie Professions-, Institutionen- und Sozialisationsforschung sind nur einige der Forschungsschwerpunkte von Professor:in Sabine Hark. Gendern in der Medizin ist weit mehr als die Anwendung einer geschlechtersensiblen Sprache.

esanum: Sehr geehrte:r Professor:in Hark, aktuell wird das Thema geschlechtergerechte Sprache - auch Gendern genannt - in den Medien heiß diskutiert. Doch es ist nicht nur die Sprache, die angepasst werden muss. Es ist das Umdenken, dass manchen Menschen wortwörtlich Kopfschmerzen bereitet. Die Anwendung einer geschlechtergerechten Sprache würde ja voraussetzen, dass die Person, die sie anwendet, das weibliche oder das diverse Geschlecht nicht diskriminiert oder als eines dem männlichen untergeordneten Geschlecht ansieht. Das aktuell verwendete generische Maskulinum erinnert uns tagtäglich an das Machtungleichgewicht, das im binären Geschlechtersystem wurzelt. Die Einführung der geschlechtergerechten Sprache wäre der erste Schritt in Richtung Gleichberechtigung. In meinem klinischen Alltag als Ärzt:in erlebe ich oft, dass Patient:innen den medizinischen Beruf immer noch ganz stark mit dem männlichen Geschlecht in Verbindung bringen. Das generische Maskulinum beginnt bei der Berufsbezeichnung und zeichnet sich die Karriereleiter nach oben hin deutlich ab. Welche Verbindung sehen Sie zwischen der Anwendung des generischen Maskulinums und der damit in Gedanken mit dem männlichen Geschlecht verbundenen Kompetenz? Welche Auswirkungen hat die Beibehaltung des generischen Maskulinums auf das weibliche und diverse Geschlecht bei der Ausübung von Berufen?

Hark: Zunächst ist es mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass auch das generische Maskulinum eine Form des sogenannten Genderns ist. Diejenigen, die das generische Maskulinum als neutrale, inklusive Form verteidigen, blenden hier gerne aus, dass es eben keine vom Genus unabhängige Form ist, sondern eben genau das: ein generisches Maskulinum. Neutral wäre es nur, wenn wir wie etwa im Englischen geschlechtsneutrale Bezeichnungen hätten, auf die dann eben mit der weiblichen oder männlichen oder einer non-binären Weise rekurriert werden kann. Wenn im Englischen von the professor oder the physican  die Rede ist, kann es im nächsten Satz eben mit she oder he weitergehen. Im Deutschen wäre das nicht so einfach, weil uns eben der Arzt und die Ärztin als Möglichkeit zur Verfügung stehen und daher die Bezeichnung der Arzt nicht neutral, sondern eine immer schon vergeschlechtlichte Bezeichnung ist. In der Geschlechterforschung sprechen wir daher von Prozessen der Vergeschlechtlichung. Das heißt, wir weisen Personen, Dingen oder Sachverhalten wie eben Berufsbezeichnungen ein Geschlecht zu indem wir entsprechend sprachlich handeln.

Sie haben ja selbst darauf hingewiesen, wie stark das im medizinischen Berufsfeld der Fall ist. In der Regel assoziieren die Menschen mit dem Arzt eben nicht die Ärztin. Das ist in zahlreichen Studien gezeigt worden. Werden beispielsweise Schüler:innen oder auch Studierende aufgefordert, eine:n Wissenschaftler:in darzustellen, so zeichnet bis heute die Mehrzahl einen weißen, oft bärtigen Mann im Laborkittel. Das zeigt, wie stark das Bild des Wissenschaftlers sowohl männlich vergeschlechtlicht als auch von den Naturwissenschaften geprägt ist. Ich mache zum Beispiel häufig die Erfahrung, wenn ich meinen Personalausweis vorzeigen muss, dass ich gefragt werde, ob ich Doktor der Medizin bin. Das ist das erste, was den Leuten in den Sinn kommt: es gibt Doktoren, keine Doktorinnen und die sind Mediziner, keine Soziolog:innen. Doktorinnen und Ärztinnen sollen sich also von einem Begriff angesprochen fühlen, der sie explizit unsichtbar macht. Das ist historisch zwar nicht ganz falsch, weil ja in der Tat Frauen erst seit etwas mehr als einhundert Jahren studieren und als Ärztinnen praktizieren dürfen. Der Arztberuf ist als tatsächlich auch lange Zeit eine männliche Domäne gewesen. Im umgekehrten Fall der Krankenpflege, die historisch weit überwiegend weiblich dominiert war, wurde dagegen eine neue Bezeichnung gefunden, der Krankenpfleger, weil es selbstverständlich nicht hinnehmbar ist, dass eine männliche Person eine Krankenschwester ist. Hier haben wir es im Englischen wieder leichter. The nurse ist wirklich geschlechtsneutral und für jedes Geschlecht anschlussfähig. Aber Sie haben noch auf einen anderen Aspekt aufmerksam gemacht: die Verbindung von Geschlecht, geschlechtlicher Adressierung und Kompetenz.

In der Geschlechterforschung gibt es dafür einen Begriff, den die Soziologin Celia Ridgeway geprägt hat, und zwar den Begriff der gender status beliefs. Damit meint Ridgeway, dass wir unterschiedliche Vorstellungen zu den Kompetenzen von Frauen und Männern haben und diesen auch unterschiedliche Kompetenzen zuschreiben beziehungsweise von ihnen erwarten. Und diese zugeschriebenen Kompetenzen sind wiederum eng verknüpft mit dem Status, den wir Personen zugestehen. Also so etwas wie Männer sind vernünftig, technisch begabt, mutig, durchsetzungsstark, entscheidungsfreudig, aber auch draufgängerisch, risikobereit usw. und deshalb ist es klar, dass sie Chirurgen sein können. Frauen hingegen sind fürsorglich, emotional, oft nervös, sprunghaft, eher an Schönem statt an Funktionalität orientiert, ängstlich usw.  und deshalb für den Beruf des Chirurgen nicht geeignet. In der Medizin können wir das sowohl sehr gut feststellen, wenn wir sehen welches Geschlecht mit welchem medizinischen Fach in Verbindung gebracht wird, aber natürlich auch, wer wo auf der Karriereleiter endet. Hier ist sicher die gläserne Decke, von der in der geschlechterbezogenen Professionsforschung die Rede ist, dicker und widerständiger als in anderen Berufen und Professionen.

esanum: Ein oft öffentlich ungern angesprochenes Thema ist die berufliche Diskriminierung der Frau aufgrund der Fähigkeit, Kinder zur Welt zu bringen. Denjenigen Frauen, die von der Elternzeit Gebrauch machen, werden oft Steine auf ihrem Weg zurück ins Arbeitsleben gelegt. In der Medizin ist es oft so, dass Frauen deutlich seltener als Männer operativ ausgebildet werden, da sie aufgrund von Schwangerschaft und Elternzeit ausfallen könnten. Welche Auswirkungen hat dieser Druck auf die moderne Frau? Wie erklären Sie sich, dass die Gesellschaft diese unterdrückte Wut aufgrund dieser Diskriminierung nicht zu spüren bekommt?

Hark: Ich glaube ja, dass es teilweise eher so ist, dass die Tatsache, dass Frauen Kinder gebären können, ein vorgeschobenes Argument ist, um die diskriminierende Kultur und die diskriminierenden Strukturen in den gesellschaftlichen Institutionen und im Erwerbsarbeitsleben nicht thematisieren zu müssen. Wenn die so genannte Vereinbarkeit von Familie und Beruf alleine das Problem wäre, dürften Frauen ohne Kinder es ja viel leichter haben. Tatsächlich stellen wir in der Wissenschaft zwar fest, dass Frauen ohne Kinder etwas bessere Chancen haben als Frauen mit Kindern, etwa was ihre Publikationsproduktivität betrifft. Aber im Großen und Ganzen ist das nicht das entscheidende Karrierehindernis, was nicht bedeutet, dass berufstätige Frauen, die auch Mütter sind, eine im Vergleich zu berufstätigen Männern, die auch Väter sind, nicht eine ungleich größere Arbeitsbelastung haben. Davon abgesehen werden ja auch nicht alle Frauen Mütter und nicht nur, weil sie aus welchen Gründen auch immer verzichten, sondern weil sie nicht Mütter werden wollen. Davon abgesehen würde ich gerne mal eine Statistik sehen, wie lange Männer beruflich ausfallen, weil sie Risikosportarten betreiben. Da kommen im Durchschnitt wahrscheinlich genauso viele Monate und Jahre zusammen wie die Monate, die Frauen wegen einer Schwangerschaft beruflich nicht zur Verfügung stehen.

esanum: Welche Macht besitzt das gendersensible gesprochene Wort und woher rührt der immense Widerstand gegen die Einführung der geschlechtergerechten Sprache?

Hark: Wieviel Macht geschlechtersensibles Sprechen hat, zeigt sich ja genau an diesem immensen Widerstand. Es ist offenkundig, dass diejenigen, die sich dagegen wehren, ob es nun Friedrich Merz, Wolfgang Thierse oder die AfD ist, den Eindruck haben, dass sie etwas verlieren, und sei es nur das Privileg, nicht mehr alleine öffentlich sichtbar zu sein. Ich persönlich habe dafür wenig Verständnis und kann es im Grunde auch nicht verstehen. Denn wie kann man als Demokrat:in etwas dagegen haben, dass alle sich sprachlich angemessen angesprochen und repräsentiert fühlen? Das kann einen doch nur deshalb stören, weil man insgeheim der Überzeugung ist, dass diese anderen, die nun auch vorkommen wollen, eben eigentlich doch nicht gehört und berücksichtigt werden sollten. Aber ich glaube auch, dass das Rückzugsgefechte sind und sich demokratische, diversitätssensible und nicht-diskriminierende Sprache und Sprechweisen immer mehr durchsetzen werden. Da habe ich ein großes Vertrauen in die demokratische Lernfähigkeit unserer Gesellschaft.

esanum: Gerade in der Medizin ist eine gendersensible Sprache im Anamnesegespräch äußerst wichtig, um die Voraussetzung für eine Ärzt:in-Patient:in-Beziehung zu schaffen. Für manche Mediziner:innen mag jedoch der Gender-Gap mit vielen Fragen verbunden sein. Was benötigen wir, um den Stein ins Rollen zu bringen, damit die gendersensible Sprache im gesamten Spektrum unserer Gesellschaft ankommt? Welche Weiterbildungsmöglichkeiten gibt es hier für interessierte Mediziner:innen?

Hark: Zunächst einmal glaube ich, dass diejenigen, die bereits davon überzeugt sind, es einfach tun sollen. Wir verschwenden meiner Meinung nach zu viel Energie darauf, uns über diejenigen aufzuregen, die dagegen polemisieren. Tun wir es doch einfach. Und das passiert ja auch. Immer mehr Moderator:innen, Nachrichtensprecher:innen, Unipräsident:innen tun es einfach. Das ist denke ich das wichtigste. Ansonsten gibt es ja zahlreiche Leitfäden, Webseiten, die Ideen und Anregungen liefern, Fortbildungen dazu an den Universitäten, an denen das medizinische Personal ja schließlich ausgebildet wird.

esanum: Kommen wir nun zum Thema der Genderaspekte in der Pharmaforschung. Viele ältere medizinische Studien wurden am männlichen Geschlecht durchgeführt. Die so gewonnen Daten zur Wirksamkeit und dem Sicherheitsprofil von Medikamenten wurden oft 1:1 auf das weibliche Geschlecht übertagen. Dies führte in einigen Fällen zur gesundheitlichen Benachteiligung von Frauen, da sich die Nebenwirkungen des Pharmakons zwischen dem männlichen und weiblichen Geschlecht unterschieden. Hier hat sich in den letzten Jahren einiges getan, um der Unterrepräsentierung des weiblichen Geschlechts in der Pharmaforschung entgegenzuwirken. Wie können Sie sich diesen Umgang mit dem weiblichen Geschlecht in der medizinischen Forschung erklären?

Hark: Das ist im Grunde ja nicht viel anders als beim generischen Maskulinum. Wenn der Mann der Maßstab aller Dinge ist und das Allgemeine verkörpert, dann muss ich ja nicht nach Unterschieden fragen. Im Buchtitel der Soziologin Claudia Honegger „Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib“ kommt das sehr gut zum Ausdruck. Honegger zeigt in diesem Buch sehr anschaulich, wie sich die moderne Wissenschaft entlang der Geschlechtergrenze ausdifferenziert. Während sich die unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen mit dem Menschen befassen, der implizit nur der Mann ist, widmet sich im 19. Jahrhundert die Sonderanthropologie der Frau, die dann zur Gynäkologie wird, allen Aspekten des weiblichen Lebens. In Lehrbüchern der Gynäkologie finden sich noch in den 1950er Jahren Kapitel zur Haushaltsführung – weil es eben den Lebensbereich von Frauen betrifft. Ich kann Claudia Honeggers Buch, das bereits 1991 erschienen ist, zu dieser Frage nur empfehlen.

esanum: Am 26.10.2019, am Intersex Awareness Day, schrieben Sie, dass die Forderungen von Intersex-Aktivist:innen mehr Aufklärung in Gesundheits- und Bildungseinrichtungen ist. Hier besteht auf jeden Fall Weiterbildungsbedarf auf Seiten des medizinischen Personals. Das binäre Geschlechtssystem zwängt sich Intersex*Personen unglücklicherweise bereits im Kindesalter auf. Im schlimmsten Fall wird operativ ein äußeres Geschlecht angepasst, dass nicht kongruent mit dem erlebten Geschlecht ist. Wissenschaftlichen Studien zufolge führt dies oft zur psychischen Belastung der betroffenen Personen. Was können Ihrer Meinung nach Ärzt:innen tun, um zukünftig besser auf die Bedürfnisse von Intersex*Personen im Gesundheitssektor einzugehen?

Hark: Eben genau das tun, was Intersex-Aktivist:innen und Gruppen seit vielen Jahren fordern: ihnen zuhören, auf medizinisch nicht notwendige Eingriffe der Geschlechtsanpassung verzichten und die zweigeschlechtliche Norm nicht über das Leben der Einzelnen stellen.