Deutschland muss raus aus der Sitz-Falle. Diesen Appell richtet die gemeinnützige Organisation diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe zum Start der Fußball-Weltmeisterschaft an Politik und Gesellschaft. Die Deutschen sitzen im Durchschnitt 7,5 Stunden täglich, nur jeder fünfte Erwachsene entspricht der WHO-Empfehlung von 150 Minuten körperlicher Aktivität pro Woche, etwa durch Fahrradfahren. Zu den Folgen zählen massives Übergewicht und ein stetiger Anstieg von Diabetes Typ 2. Experten üben zugleich scharfe Kritik am Deutschen Fußballbund (DFB), der an seinen Premium-Werbepartnern Coca-Cola und McDonalds festhält. "Eine Vorbildfunktion sieht anders aus", beklagte Dr. med. Jens Kröger, Vorstandsvorsitzender von diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe.
Zwei von drei Männern und jede zweite Frau in Deutschland sind übergewichtig, knapp ein Viertel ist sogar adipös, also schwer übergewichtig. 15 Prozent der Kinder in Deutschland haben Übergewicht, über sechs Prozent sind adipös ‒ mehr als doppelt so viele wie Anfang der 1990er Jahre. Adipositas ist damit zur häufigsten chronischen Erkrankung im Kindes- und Jugendalter geworden und zugleich ein hoher Risikofaktor für die Entstehung eines Diabetes Typ 2. Aktuell leiden bereits 6,7 Millionen Menschen in der Bundesrepublik an der Stoffwechselstörung, täglich kommen fast 1.000 Neuerkrankungen hinzu.
"Zentrale Ursachen beim Typ-2-Diabetes liegen in einer ungesunden Ernährung, dem Verzehr hochkalorischer Lebensmittel und dem Bewegungsmangel", stellte Kröger fest. "Zwei Drittel der Menschen hierzulande bewegen sich im Alltag nicht einmal eine Stunde pro Tag." Schon bei den Kleinsten setze die Inaktivität ein. "Nur etwa jedes vierte Kind beziehungsweise Jugendlicher erreicht die WHO-Empfehlung, sich 60 Minuten am Tag zu bewegen", kritisierte der Diabetologe. Dabei genügen 150 Minuten körperliche Aktivität pro Woche, um das Erkrankungsrisiko für Diabetes Typ 2 zu reduzieren. "Bereits ein zügiger Spaziergang von einer halben Stunde senkt den Blutzuckerspiegel signifikant", so Kröger.
Der Diabetologe appelliert deshalb an Politik und Gemeinden, Lebenswelten stärker bewegungsfördernd zu gestalten. "Wir müssen eine fußgängergerechte 'Walkability‘ in Städten schaffen", zeigte sich Kröger überzeugt. Dazu gehöre auch der Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs und der Radwege. Martha Marisa Wanat von der BICICLI Holding GmbH Berlin will hier gezielt die Arbeitgeber mit ins Boot holen: "Angebote wie betriebliche Rad-Flotten, Dienstrad-Programme oder die steuerliche Privilegierung des Fahrrads neben dem Auto sind gute Lösungen, um Bewegung zu fördern. Der Sport wird gleich auf dem Weg zur Arbeit erledigt."
Generell sollten Bewegungsanlässe in allen Altersstufen geschaffen werden, fügte Kröger hinzu. "Wir fordern mindestens eine Stunde Bewegung täglich für jedes Kita-Kind und jeden Schüler", sagte der Diabetologe. Zudem müsse die Politik entschiedener in den Breitensport, vor allem in die niederschwellige Verfügbarkeit von Sportstätten investieren. "Die Politik sollte außerdem die arbeitnehmerfreundliche Nutzung von Sportstätten fördern", meinte Kröger.
Auch Fußball-Kulttrainer und Sportwissenschaftler Christoph Daum setzt bei den Lebensumständen an, um niederschwellig mehr Bewegung in den Alltag zu integrieren. "Stellt im Büro häufig benutzte Geräte weit vom Sitzplatz entfernt auf, damit man zum Papierkorb, zur Kaffeemaschine, zum Drucker, zum Wasserspender aufstehen und hinlaufen muss", forderte Daum alle Büroarbeiter auf. "Führt Telefonate im Gehen durch, haltet Meetings im Stehen ab. Plant Fitnesspausen während der Arbeitszeit ein. Nehmt die Treppen, nicht den Aufzug."
Ist der erste Schritt zu mehr Aktivität getan, hilft ein Motivationsanker, die Sportintensität anzuheben. "Finde dein ganz persönliches Projekt, das dich bewegt", riet Ulrike Thurm, Diabetesberaterin der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG). "Das kann die Fahrradtour mit dem Enkel sein, das Hochzeitskleid, in das man passen will, ein neuer Partner." Bewegungsprogramme für Diabetespatienten wie "Bewegung neu erleben" (BEL) – in Zusammenarbeit unter anderem mit der Deutschen Sporthochschule Köln erarbeitet – bieten einen guten Einstieg auch für Menschen mit geringerer Leistungsfähigkeit.
Neben Bewegungsmangel hat auch der Verzehr hochkalorischer Lebensmittel einen hohen Anteil an der Entstehung von Übergewicht und Diabetes Typ 2. Zur Fußball-WM werben unter anderem Coca-Cola, McDonald's und Ferrero für ihre Produkte. Verbraucher unterschätzen häufig jedoch die Energiedichte dieser Nahrungsmittel. So enthält ein klassisches Fast Food-Menü mit 0,4 Liter Coca-Cola, einem Big Mac und einer mittleren Portion Pommes frites 1.023 Kalorien. "Um diese Kalorien abzutrainieren, müsste ein erwachsener Mann 85 Minuten, eine erwachsene Frau 110 Minuten am Stück Fußball spielen oder 27.300 beziehungsweise 36.855 Schritte gehen", rechnete Kröger vor.