Leitlinien haben in der Gynäkologie für die Frauengesundheit eine wichtige Bedeutung. Sie sind strukturierte Handlungsempfehlungen zu spezifischen Bereichen der Medizin, die bis zu ihrer Publikation einen systematischen Entwicklungsprozess durchlaufen, so Prof. Dr. Matthias W. Beckmann auf dem 61. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e.V. (DGGG). “Dabei gibt eine Leitlinie immer nur den aktuellen Stand der Medizin zum Zeitpunkt des Erstellens wieder”, so Beckmann. Deshalb werden Leitlinien in regelmäßigen Abständen aktualisiert und besitzen nur eine eingeschränkte Gültigkeit von wenigen Jahren. S1-Leitlinien sind in ihrer Wertigkeit eingeschränkt, die DGGG hat sich deshalb dazu entschlossen, künftig keine S1-Leitlinien mehr zu veröffentlichen und den Fokus auf höherwertige, gut recherchierte Leitlinien (S2k, S2e und S3) zu legen.
Wieviel dennoch auch eine S1-Leitlinie für die Patientengesundheit bewirken kann, zeigt sich an der S1-LL “Vorgehen bei Terminüberschreitung und Übertragung”, “Perinatale Mortalität ist prinzipiell vermeidbar durch eine rechtzeitige Entbindung beziehungsweise die Geburtseinleitung”, machte PD Dr. Erich Weiss, Frauenklinik und Perinatalzentrum der Kliniken Böblingen deutlich. Die Geburtshilfe in Deutschland aber bewege sich in der Spanne zwischen durchgeplanter Kaiserschnittgeburt und Hausgeburt in der Badewanne. Vor diesem Hintergrund, so Weiss, sei es sehr wichtig gewesen eine Leitlinie zu formulieren. 2010 erstmals veröffentlicht, wurde die S1-LL 2014 aktualisiert. “Ich hoffe, die nächste Version wird S2k werden”, so Weiss.
Insgesamt war die zur Verfügung stehende Datenlage eher dünn, die meisten Studien 20 bis 30 Jahre alt und fast ausschließlich aus dem angelsächsischen Raum. Neueren Datums nur ein Cochrane Review aus 2012 der 22 Studien mit 9300 Frauen untersucht hatte und zu dem Schluss kommt, dass eine Geburtseinleitung in SSW 41 + 0 mit einer geringeren perinatalen Mortalität und tendenziell weniger Kaiserschnitten assoziiert ist. Das Problem des Reviews sei allerdings, dass 90% der Fälle aus einer großen kanadischen Arbeit stamme, mit völlig anderen Voraussetzungen als hier in Europa. “Das war der Hauptkritikpunkt und verursachte viele Diskussionen in unserer Leitlinienkommission.”
Als Terminüberschreitung ist eine Schwangerschaft ab SSW 40 definiert, ab Woche 42 spricht man von Übertragung. In Deutschland sind 37% der Schwangerschaften der Terminüberschreitung zuzuordnen, mit 0,53% (USA bis zu 6,3%) spielt die Übertragung in Deutschland praktisch keine Rolle.
Bei der Terminüberschreitung bestehen in zweifacher Hinsicht Risiken:
Bei suffizienter Plazentafunktion nimmt die Zahl der Neugeborenem mit erhöhtem Geburtsgewicht (> 4000 g) zwischen 15 und 25% zu. Da das Kind kontinuierlich wächst können das innerhalb von zwei Wochen 500 g sein. Häufiger kommt es zu einem protrahierten Geburtsverlauf, häufiger auch zu vaginal-operativen Entbindungen, es werden mehr maternale Geburtsverletzungen, häufigere Schulterdystokien und häufigere Geburtsverletzungen der Neugeborenen beobachtet.
Bei insuffizienter Plazenta führt eine Terminüberschreitung zu erhöhter perinataler Morbidität, zu einem Oligohydramnion, Nabelschnurkompressionen, Mmkoniumhaltigem Fruchtwasser, Mekoniumaspirationssyndrom, zu Asphyxie und Fruchttod.
Daten der baden-württembergischen Perinatalerhebung belegen: Ab SSW 37 steigt die Zahl makrosomer Neugeborener über vier Kilogramm kontinuierlich; bis in SSW 42 hat das Ungeborene 25% Gewicht zugelegt. Das Risiko für den intrauterinen Fruchttod ist bis Woche 40 gering und liegt bei etwa 0,23 Promille, verdoppelt sich in der ersten Woche der Terminüberschreitung und geht in der zweiten Woche noch mal um 0,2 hoch auf 0,61. Wird die Übertragung erreicht, verachtfacht sich das Risiko auf einen intrauterinen Fruchttod. Wartet man noch länger, verdreifacht sich das Risiko sogar.
Das mütterliche Alter hat dabei erheblichen Einfluss: Die 40jährige hat mit 39 Wochen ein gleich hohes Risiko ihr Kind durch einen intrauterinen Fruchttod zu verlieren wie z.B. die 25jährige mit fast 42 Wochen. In England hat die NICE deshalb empfohlen, bei Schwangeren ab 40 Jahren die Geburt zwischen SSW 39 und SSW 40 einzuleiten. Die Studie von Walker et al. dazu zeigt, dass die Geburtseinleitung in SSW 39/40 bei 35jährigen Frauen keine erhöhte Sectiofrequenz nach sich zieht.
Ab SSW 40 finden sich in den Daten der baden-württembergischen Perinatalerhebung mehr primäre Kaiserschnitte aufgrund von auffälligen CTGs, ein Anstieg von 18 auf 34%. Protrahierte Verläufe und auch schwere Azidosen sind häufiger, die vaginal-operativen Entbindungen nehmen von 8% auf 16 % zu. Wobei es sich dabei nicht um high risk- sondern um low risk-Schwangerschaften handelt.
Die LL führt Fruchtwasserbestimmung und CTG in der ersten Woche (SSW 40) als optional auf, ab der zweiten Woche sollte eine intensivere Überwachung folgen. Ab SSW 42 + 0 liegt die Indikation zur Geburtseinleitung vor.
Empfohlen wird ein risikoadaptiertes Vorgehen: “Wir wollen prophylaktisch zum Schutz von Mutter und Kind etwas unternehmen, also müssen wir mit der Patientin reden, überlegen wo die Risiken liegen und dann eine gemeinsame Entscheidung treffen. Wir müssen auch klar stellen, dass die Kaiserschnittrate durch eine Einleitung nicht erhöht ist”, so Weiss. Seit Erstellung der LL ist die Einleitungsrate ab SSW 41 um 15% gestiegen. Die Rate an intrauterinen Fruchttoden habe sich dadurch möglicherweise verringert, das müsse aber noch nachuntersucht werden. Die häufigeren Einleitungen haben weder die Sectiorate noch die vaginal-operative Entbindungsraten erhöht, tendenziell mussten weniger Neugeborene in die Kinderklinik verlegt werden.
Quelle:
61. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie (DGGG) Messe Stuttgart ICS 19. bis 22. Oktober 2016 Leitlinien im Fokus
Wissenschaftliche Sitzung
Frauengesundheit: Verantwortung – Perspektiven Unsere Leitlinien (DGGG, SGGG, OEGGG im Fokus