International führende Wissenschaftler auf dem Gebiet der Neurophysiologie, der Neurotechnologie und der Neuroethik haben ethische Richtlinien für den Einsatz von Gehirn-Computer-Schnittstellen formuliert. Sie sollen Datenschutz, Haftung und Sicherheit bei hirngesteuerten Systemen gewährleisten.
Bisher wurden diese Aspekte wenig beachtet und sind teilweise noch völlig ungeklärt. Technologien, die Hirnaktivität in Steuersignale von Computern, Robotern oder Prothesen übersetzen, sind bereits sehr weit entwickelt. In einem Beitrag für das Fachmagazin Science mit dem Titel "Help, Hope and Hype" fordern die Wissenschaftler einen verantwortungsbewussten Umgang mit solchen Gehirn-Computer-Schnittstellen. Zentrale Forderung ist eine "Veto"-Funktion, die unbeabsichtigte Befehle unterbricht. Die Forscher, darunter die Tübinger Wissenschaftler Niels Birbaumer und Surjo R. Soekadar, schlagen außerdem vor, dass alle Daten vorübergehend und verschlüsselt gespeichert werden sollten, wie bei der Blackbox eines Flugzeugs.
Die Experten haben sich intensiv mit den ethischen Aspekten von Gehirn-Computer-Schnittstellen auseinandergesetzt. Mit ihrer Forschung haben einige von ihnen wesentlich dazu beigetragen, dass diese Technologie für den medizinischen Bereich sehr weit entwickelt ist. Mittlerweile haben auch private Investoren, wie Mark Zuckerberg (Facebook) oder Elon Musk (Tesla, SpaceX) das Forschungsgebiet für sich entdeckt. Richtlinien könnten Forschern, Entwicklern und Anwendern auf dem Weg zum alltäglichen Einsatz der hirngesteuerten Systeme helfen, verantwortungsbewusst mit ethischen Aspekten der Technologie umzugehen. Gleichzeitig sei es wichtig, die Öffentlichkeit über Möglichkeiten und Grenzen der neuen Technologie zu informieren. Bisher begeisterten Gehirn-Computer-Schnittstellen noch als sensationelle Neuheiten – die gesellschaftliche Diskussion darüber sollte jedoch faktenbasiert stattfinden.
Gehirn-Computer-Schnittstellen sind Systeme, die Hirnaktivität in Steuersignale von Computern, Robotern oder Prothesen übersetzen. Bereits 1999 fand der Tübinger Neuropsychologe Niels Birbaumer eine Möglichkeit, Patienten mit sogenanntem Locked-In-Syndrom mithilfe von Hirnsignalen Briefe buchstabieren zu lassen. 2017 ermöglichte er auch vollständig Gelähmten im complete locked-in state (CLIS) einfache Ja/Nein-Antworten zu geben. Der Psychiater und Neurowissenschaftler Surjo R. Soekadar zeigte zuletzt, dass Gehirn-Computer-Schnittstellen auch im Alltag einsetzbar sind. Beispielsweise können Querschnittsgelähmte mithilfe eines hirngesteuerten Exoskeletts selbstständig essen und trinken.
Zwar sei es noch nicht möglich, mit Gehirn-Computer-Schnittstellen komplexere Gedanken auszulesen, erklärte Soekadar. "Dies kann sich aber möglicherweise bald ändern. Wir müssen daher vom Ende her denken." Die aufgezeichneten Hirnsignale müssten vor unerlaubtem Zugriff geschützt werden. Außerdem stelle sich die Frage der Verantwortung für Fehler, die bei der Übersetzung von Hirnaktivität in Steuersignale auftreten könnten. Als zentrale Forderung mahnen die Autoren hier eine "Veto"-Funktion an, um unbeabsichtigte Steuerbefehle der Gehirn-Computer-Schnittstelle zu unterbrechen. "Der Mensch muss zu jedem Zeitpunkt in der Lage sein, die Maschine zu stoppen", so Soekadar. Auch sein System verfüge über eine Veto-Funktion, die über eine bestimmte Augenbewegung ausgelöst wird. Elektrische Hirnsignale, die von der Kopfoberfläche abgeleitet werden, könnten für diese Funktion noch nicht zuverlässig genutzt werden.
Wie in einem Flugzeug müssten alle Biosignale und Steuerbefehle in einer Black-Box für einen begrenzten Zeitraum gespeichert werden, so die Wissenschaftler. Nur so ließen sich haftungsrechtliche Fragen eindeutig klären. Neben Schutz vor unerlaubtem Auslesen aufgezeichneter Signale, müssten sämtliche Daten sicher verschlüsselt werden. Dies sei aktuell keine gängige Praxis – es lasse sich somit nicht ausschließen, dass Informationen von Dritten missbraucht würden ("Brainhacking"). Bei implantierbaren Systemen oder Gehirn-Computer-Schnittstellen, die Gehirngewebe auch direkt stimulieren können, sei besondere Vorsicht geboten: Im Extremfall sei ein sogenanntes "Brainjacking" nicht auszuschließen, also die Manipulation des Systems zur gezielten Beeinflussung von Hirnfunktionen oder Verhalten.
"Die technologischen Fortschritte im Bereich der Gehirn-Computer-Schnittstellen entwickeln sich derzeit so rasant, dass es höchste Zeit ist, rechtliche und ethische Rahmenbedingungen zu definieren und durchzusetzen", fordert Jens Clausen, Neuroethiker an der Pädagogischen Hochschule Freiburg und Mitglied des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften an der Universität Tübingen. Eine Frage der Ethik sei auch der Umgang mit Hoffnungen, die bei Patienten und ihren Angehörigen geweckt werden. Aufsehenerregende Demonstrationen hirngesteuerter Systeme führten oft zu überzogenen Erwartungen. Die Medien sowie wirtschaftliche Profiteure seien deshalb in der Verantwortung, den Nutzen, aber auch Grenzen und Risiken dieser Technologien, ausgewogen darzustellen. Die Vermittlung von Wissen über technische Möglichkeiten und Grenzen (sogenannte "Neuroliteracy") müsse Teil des öffentlichen Bildungsauftrags werden.