Trotzdem weigert sich Professor Frank Jessen, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Uniklinik Köln, den weitverbreiteten Nihilismus in der Alzheimer-Demenz-Therapie zu akzeptieren: „Es gibt sehr wohl wirksame Medikamente. Diese können eine Alzheimer-Demenz zwar nicht heilen, aber die Symptome deutlich lindern und den Zustand verbessern”, betonte Jessen bei der Vorstellung der überarbeiteten S3-Leitlinie “Demenzen”. Ein Problem sei bisher, dass bis zu 50 Prozent der Patienten die zur Verfügung stehenden Medikamente nicht erhalten und nur etwa die Hälfte der neu an Demenz Erkrankten von ihrem Arzt als solche erkannt würden, so die AgeCoDe-Studie. Das müsse sich ändern.
Rund fünf Jahre lang haben führende Experten an der neuen Leitlinie gearbeitet, die von 23 Fachgesellschaften und Berufsverbänden von Ärzten, Therapeuten, Pflegepersonal und Patienten als maßgebliche Regeln für die Diagnostik und die Behandlung von Demenzerkrankungen anerkannt werden. Federführend waren die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) sowie die Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN). Einen Umfang von 133 Seiten und 21 Tabellen hat das Werk, in das ein Team unter Leitung von Professor Günther Deuschl von der DGN und Professor Wolfgang Maier von der DGPPN allein 418 wissenschaftliche Publikationen eingearbeitet haben. Circa 50.000 Wissenschaftlicher weltweit würden derzeit an der Alzheimer-Erkrankung forschen. Ein Medikament mit einer krankheitsmodifizierenden Wirkung sei allerdings bisher nicht in Sicht, erklären die Experten.
Umso wichtiger sei es daher der Leitlinie zufolge die vorhandenen Medikamente gezielt einzusetzen wie beispielsweise die Medikamentengruppe der Acetylcholinesterase-Hemmer, die Patienten dabei unterstützt, ihre Alltagsaktivitäten zu verrichten und kognitive Funktionen bei einer leichten bis mittelschweren Alzheimer-Demenz stabilisiert. Memantin verbessere die Alltagsfunktion und den klinischen Gesamteindruck bei Patienten mit moderater bis schwerer Alzheimer-Demenz. Neu ist, dass das Extrakt aus der Pflanze Ginkgo biloba bei Personen mit leichter bis mittelgradiger Alzheimer- oder vaskulärer Demenz, die zusätzlich unter Verhaltensänderungen wie Depression oder Antriebsstörungen leiden, Hinweise auf eine positive Wirkung zeigt. Einen wenn dann kurzfristigen Einsatz sieht die Leitlinie für Neuroleptika vor.
Im Idealfall gehe eine Pharmakotherapie mit einer nicht medikamentösen Behandlung einher. Ausdrücklich empfiehlt die Leitlinie psychosoziale Interventionen gleichwertig einzusetzen, da es klare Evidenzen gebe, dass diese bei leichten und mittelschweren Stadien den Krankheitsverlauf mindern. “Psychosoziale Interventionen wirken so gut wie Medikamente und sind gleichrangige zentrale Bausteine im Gesamtbehandlungsplan von Demenzerkrankungen”, betont Professor Wolfgang Maier, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Bonn und einer der beiden Sprecher der Leitlinie. “Die Wirksamkeit alltagsnaher kognitiver Stimulation, individuell angepasster Ergotherapie oder gezielter körperlicher Aktivitäten ist klar nachgewiesen. Damit werden nicht nur Lebensqualität, Fähigkeiten und positive Gefühle der demenziell Erkrankten gefördert, sondern vor allem auch die Pflegenden entlastet.” Heimeinweisungen könnten so länger vermieden werden, Angehörige entlastet.
“Die Hinweise verdichten sich, dass eine Alzheimer-Demenz nicht allein Schicksal ist”, sagt Professor Jessen mit Blick auf eine mögliche Prävention. “Es gibt wahrscheinlich Möglichkeiten, das Risiko einer Erkrankung zu mindern. Als Faustregel gilt: Was dem Herz gut tut, hilft auch dem Gehirn.” Darum gilt es, Diabetes, Bluthochdruck und Übergewicht im Auge zu behalten, um diesen Risikofaktoren frühzeitig medizinisch entgegenzuwirken. Ein gesunder und aktiver Lebensstil, körperliche Bewegung und ein aktives soziales Leben sind weitere Faktoren, die dabei helfen, die Erkrankung zu bremsen. Auch wird in den Leitlinien von der Einnahme von Hormonersatzpräparaten zur Prävention von Demenz abgeraten.
“Wenn die fachlich richtigen Methoden gewählt werden, können wir heute eine Alzheimer-Erkrankung mit einer Vorhersagestärke von 85 bis 90 Prozent prognostizieren”, sagt Professor Jörg Schulz, Direktor des Neurologischen Universitätsklinikums in Aachen. Jeder Patient mit sicher diagnostizierten klinischen Vorzeichen, einer so genannten MCI (Mild Cognitive Impairment), sollte über die Möglichkeiten einer Frühdiagnostik aufgeklärt werden. Frühe präventive Maßnahmen könnten die Chance erhöhen, den Fortschritt der Erkrankung zu bremsen. Schulz rät von den in den Medien oft als Prävention angekündigten Screenings (kognitive Tests, Kurztests, apparative Verfahren) bei Personen ohne Beschwerden und Symptome mit dem Ziel, eine mögliche Demenzerkrankung auszuschließen ab. Anbieter solcher Privatleistungen für Selbstzahler werden von der Leitliniengruppe als nicht seriös angesehen. Moderater Alkoholkonsum würde zwar in einigen Studien protektive Effekte zeigen, wegen der Abhängigkeitsgefahr und toxischer Eigenschaften des Alkohols wird diese Strategie aber nicht empfohlen.
Text: V. Thoms
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