Wer in Deutschland das Geschlecht von Mann zu Frau oder umgekehrt wechseln möchte, hat große bürokratische Hürden zu überwinden noch bevor eine Behandlung beginnt. Mindestens zwölf Monate Alltagstest und Psychotherapie als Voraussetzung hält die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie für unangemessen und zu lang.
Das aktuelle Prozedere widerspricht neuen internationalen Leitlinien zu "Geschlechtsinkongruenz", die in der neuen ICD-11 voraussichtlich nicht mehr als psychische Erkrankung klassifiziert werden wird. Gemessen an dem hohen Informationsbedarf gibt es zudem zu wenig Beratungsstellen und zu wenig Experten, die sich mit dem Thema Identitätswechsel und Therapie auskennen.
Wenn sich ein Mann oder eine Frau in seinem oder ihrem Körper nicht "zu Hause" fühlt und die körperlichen Merkmale nicht mit der empfundenen Geschlechtszugehörigkeit übereinstimmen, können häufig psychische Belastungen entstehen. "Das Gefühl, nicht zu dem eigenen anatomischen Geschlecht zu passen, führt zu Unbehagen: Experten sprechen von Geschlechtsinkongruenz. Die Betroffenen haben häufiger als andere Depressionen, Suizidgedanken, Angststörungen oder Probleme mit Suchtmitteln", sagt Professor Dr. med. Sven Diederich, Ärztlicher Leiter Medicover Deutschland aus Berlin. "Ursache dafür sind meist nicht etwa psychische Störungen, sondern die Diskriminierung der Gesellschaft und die Hürden im Gesundheitswesen", so Diederich.
Geschlechtsidentität ist die von jedem Menschen individuell empfundene Geschlechtszugehörigkeit. Stimmt diese nicht mit den körperlichen Merkmalen überein, kann mit einer Hormonbehandlung und Operationen in das andere gewünschte Geschlecht "gewechselt" werden. Das ist kein einfacher Vorgang, sondern ein komplexer monatelanger Prozess, der viel Wissen und Erfahrung aufseiten der Behandelnden voraussetzt und der/dem Betroffenen körperlich und psychisch viel abverlangt.
Anders als in anderen Ländern wie beispielweise Irland, wo eine Selbstdiagnose ausreicht und gesetzlich verankert ist, müssen die "Wechselwilligen" hierzulande mindestens zwölf Monate Psychotherapie und zwölf Monate Alltagstest vor dem Beginn einer Behandlung für die Zulassung zu Körperveränderungen vorweisen. Bei der "Alltagserprobung" soll die/der Betroffene über den gesamten Zeitraum und in allen Bereichen ihres/seines Lebens in dem gewünschten Geschlecht leben, um die "neue" Geschlechterrolle zu erproben, so verlangen es die Kassen. "Das widerspricht allen neuen internationalen Leitlinien und muss geändert werden", fordert Diederich.
Wie viele Menschen sich wünschen, als Angehöriger des anderen Geschlechts zu leben und anerkannt zu werden, wird unterschiedlich geschätzt. "Wir gehen von mindestens 0,5 Prozent aus. Für diese große Gruppe von bis zu 400.000 Menschen in Deutschland stehen zu wenige Experten zur Verfügung", beklagt Diederich. Da zu wenig versierte Psychologen und Psychiater, Hormonexperten (Endokrinologen, spezialisierte Gynäkologen und Urologen) und plastische Chirurgen vorhanden sind, experimentierten zahlreiche Betroffene mit Substanzen. Diese Selbstmedikation ist riskant.
Dass es mit einem vereinfachten Begutachtungsverfahren nicht getan ist, ergänzt Professor Dr. med. Matthias Weber, Mediensprecher der DGE: "Es gibt noch immer sehr viele Vorurteile in der Bevölkerung gegenüber Transgender-Menschen. Wir brauchen mehr Aufklärung in der Gesellschaft, aber auch mehr Beratungsstellen für die Betroffenen." Auch die Kompetenzen der Behandelnden müssen ausgebaut werden. "Das Thema Transidentität gehört in die Ausbildung von Medizinern ebenso wie in die Fort- und Weiterbildung von Ärzten und Psychologen", so Weber, Leiter der Endokrinologie und Diabetologie der Universitätsmedizin Mainz.
Die Fachgesellschaft fordert, den Mangel an geeigneten Experten zu beheben und die Hürden für Menschen, die ihr Geschlecht wechseln möchten, zu senken. "Die Selbsteinschätzung und die Begutachtung eines in diesem Bereich versierten Psychologen müssen reichen", resümieren die DGE-Experten.