Eigentlich wollen die Jenaer Wissenschaftler die Mechanismen des Alterns erforschen. Doch vor einem Jahr machte das Leibniz-Institut ganz andere Schlagzeilen: Die Forscher sollen massiv gegen den Tierschutz verstoßen haben. Die Justiz ermittelt noch immer.
Tierversuche sind ein sensibles Thema. Umso größer war vor einem Jahr das Entsetzen, als massive Vorwürfe gegen das renommierte Leibniz-Institut für Alternsforschung in Jena bekannt wurden. Damals rückten Beamte des Landeskriminalamtes zu einer Durchsuchung an und es wurden alle Versuchsreihen mit Wirbeltieren gestoppt. Ein Jahr später spricht der wissenschaftliche Direktor Karl Lenhard Rudolph von einem "gelungenen Neustart". Gut die Hälfte der damals gestoppten 25 Versuchsreihen laufen inzwischen wieder, weitere neun neue Anträge wurden den Angaben zufolge bewilligt. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Gera dauern allerdings noch an - Ende offen.
"Das Ausmaß haben wir am Anfang unterschätzt", gesteht Rudolph. Zunächst seien zwei Tierlinien aufgefallen, bei denen mit Kreuzungen begonnen wurde, ohne dass eine Genehmigung vorgelegen habe. Bei genauerer Untersuchung wurde Ähnliches auch bei anderen Versuchen festgestellt. Auch seine eigene Forschungsgruppe sei betroffen gewesen, räumt der Stammzellforscher ein. "Wir hatten damals ein strukturelles Problem im Haus." Früher seien sehr viele Projekte in einem Antrag zusammengefasst worden. "Da hat man selber als Forscher wohl leicht den Überblick verloren." Anders als heute habe es auch keine zentrale Datenbank gegeben, die alle Tiere erfasst.
Wenn Karin Elflein von ihrer Zeit am Institut berichtet, dann schwingt noch immer Entsetzen in ihrer Stimme. Zwei Jahre hat die Biologin bis zum Frühjahr 2016 im Tierhaus gearbeitet. In einem Fall etwa sei "ohne Sinn und Verstand" gezüchtet worden, so dass plötzlich 900 Mäuse zu viel da gewesen seien, erzählt sie. "Mit einem Zuchtplan wäre das leicht zu verhindern gewesen." Die überzähligen Tiere seien getötet worden. Auch seien für einzelne Versuche viel mehr Tiere eingesetzt worden, als die Aufsichtsbehörde bewilligt habe, und Tiere auf abgelaufene Anträge gerechnet worden. Zudem seien Zahlen zu Versuchstieren nachträglich "angepasst" worden, erzählt sie. Da sei es schon mal um mehrere tausend Mäuse gegangen.
Elflein schätzt, dass insgesamt etwa 13 000 Tiere unnötig ihr Leben gelassen haben. Ein Problem sei auch gewesen, dass die damalige Leiterin des Tierhauses gar keine wissenschaftliche Ausbildung hatte. "Ich habe diese Probleme immer wieder angesprochen, doch passiert ist nichts", beklagt Elflein. "Der Vorstand war komplett informiert."
Wie viele überzählige Tiere mutmaßlich illegal am Institut gezüchtet und für Versuche eingesetzt wurden, vermag Rudolph nicht zu sagen: "Dazu laufen noch die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft." Zu Details der Ermittlungen will sich die Behörde derzeit nicht äußern. Es gehe um einen "größeren Komplex", erklärte Sprecher Steffen Flieger. Die genaue Zahl der betroffenen Tiere könne deswegen ebenso wenig eingegrenzt werden wie der exakte Zeitraum, in dem sich die mutmaßlichen Tierschutz-Verstöße zugetragen haben.
"Fakt ist, dass es - wenn man genetisch veränderte Mäuse züchtet - immer wieder zu ungewollten Genotypen kommt", betont Rudolph. Die seien dann nicht für den Tierversuch zu gebrauchen. Das Institut sei aber bestrebt, alle Mäuse zu nutzen, etwa für Organentnahmen, für Ausbildungszwecke oder auch als Futter für Zoos. Er räumt ein, dass die frühere Tierhausleiterin keine wissenschaftliche Ausbildung gehabt habe, sondern nur eine technische, wie er sagt. Das sei von den Behörden aber so akzeptiert gewesen.
Das Institut hat seit Bekanntwerden der Vorwürfe Konsequenzen gezogen. So sei nicht nur die Tierhausleitung ausgewechselt, sondern insgesamt fünf neue Mitarbeiter - davon vier Tierärzte - eingestellt worden. Zwei von ihnen haben die Funktion eines Tierschutzbeauftragten. Das heißt, sie beraten die Wissenschaftler bei Anträgen auf Tierversuche und deren Durchführung. Die Funktion war in der Vergangenheit extern ausgeübt worden. "Unser Ziel ist es, den Tierverbrauch möglichst gering zu halten", sagt Rudolph. "Wir haben jetzt eine vorbildliche Struktur auf höchstem Level."
Karin Elflein dagegen hat sich längst einen neuen Job gesucht. Für sie ist unverständlich, dass die Vorfälle für einige der beteiligten Forscher bisher keine Folgen hatten. Vielmehr werde versucht, die Sache mit einem "Bauernopfer" abzustellen, moniert sie und spielt auf den früheren externen Tierschutzbeauftragten an, der seinen Job verloren hat. Auch bei den Behörden sieht sie eine Mitschuld: "Die haben über Jahre bewusst weggeschaut."