Je mehr Bildung im ersten Lebensdrittel desto weniger Demenz im letzten – diese These klingt nicht nur auf Anhieb plausibel, sie wird auch seit Jahren von vielen Experten vertreten. Eine neue Studie kommt allerdings zu anderen Ergebnissen.
In Deutschland leiden schätzungsweise 1,5 Millionen Menschen an einer Demenzerkrankung, rund 700.000 davon an Morbus Alzheimer. Von den heute 65-Jährigen sind etwa zwei Prozent betroffen, bei den 75-Jährigen schon sechs, bei den 85-Jährigen zeigen etwa 20 Prozent Symptome. Schon unter demografischen Gesichtspunkten wird es so immer wichtiger, alle relevanten Risikofaktoren zu identifizieren und neue Wege zu finden, um Demenz zu verhindern oder zu verlangsamen.
Seit Alois Alzheimer vor über hundert Jahren den ersten Fall der Krankheit beschrieb, ist viel passiert. Viele Risikofaktoren - neben hohem Alter - sind längst “alte Bekannte“: Rauchen, Bewegungsmangel, verschiedene Erbanlagen, schwere Kopfverletzungen, Bluthochdruck, ein erhöhter Cholesterin-Spiegel, Gefäßverkalkungen, schlecht eingestellter Blutzucker bei Diabetes - einige Zusammenhänge sind gut erforscht, andere bloß statistisch erwiesen, manche letztlich eben vielleicht nicht viel mehr als plausible Annahmen. Die Frage dieser Kategorisierung stellt sich jetzt am Beispiel der sogenannten "kognitiven Reserve": Obwohl entsprechende Studien bisher meist zu widersprüchlichen oder unschlüssigen Ergebnissen geführt haben, glauben viele Forscher, dass in den ersten 30 Lebensjahren erlernte Fähigkeiten und Kapazitäten eine Art "geistiges Gerüst" ergeben - eine "kognitive Reserve", die das Ausbrechen und Fortschreiten von Demenzerkrankungen in den letzten 30 Jahren verhindern und verlangsamen hilft.
Eine Gruppe von Forschern am Rush University Medical Center in Chicago, Illinois, hat nun versucht, ein klareres Bild des Zusammenspiels zwischen Bildung und Demenz zu entwickeln. Ihre Ergebnisse haben sie diese Woche in der neuesten Ausgabe der Zeitschrift Neurology veröffentlicht. Das Team um Robert S. Wilson untersuchte Informationen von 2.899 Personen aus zwei Quellen: Ein Projekt, an dem ältere katholische Geistliche aus allen Teilen der USA beteiligt sind ("Religious Orders Study"), und das "Rush Memory and Aging Project", an dem ältere Erwachsene in der Metropolregion Chicago teilnehmen.
Zuvor hatten Forscher die Teilnehmenden bereits jährlich bewertet. Diese hatten sich auch bereit erklärt, ihr Gehirn für die Autopsie nach dem Tod zu spenden. Die Forscher hatten die Entwicklung der Teilnehmenden im Durchschnitt acht Jahre lang verfolgt. Zu Beginn der Studie lag das Durchschnittsalter bei 78 Jahren. In den acht Jahren entwickelte fast ein Viertel der Probanden Demenz. Von den 752 Personen, die während der Untersuchung starben, hatten 405 eine Demenz entwickelt. Für die Analyse teilten die Forscher die Personen gemäß der Dauer ihrer Bildungslaufbahn in drei Gruppen auf: 17 oder mehr Jahre, 13-16 Jahre und 12 Jahre oder weniger.
Die Ergebnisse überraschten: Die Wissenschaftler stellten zwar wie erwartet fest, dass die Teilnehmer, die längere Zeit in der Ausbildung verbracht hatten, auch Jahrzehnte nach Abschluss der Ausbildung ein höheres kognitives Funktionsniveau hatten. Die Höhe des Niveaus konnte jedoch weder vor einem langsamen kognitiven Rückgang schützen, noch den Zeitpunkt des Beginns der Krankheit verschieben.
Eine andere weit verbreitete Theorie, die besagt, dass ein kognitiver Rückgang tendenziell umso schneller voranschreitet, je höher der Bildungsstand des Betroffenen ist, wurde durch die Studie nicht bestätigt. Auch eine Variante dieser These, die unter Berücksichtigung des Demenzmarkierungsgrades im Gehirn umgekehrt davon ausgeht, dass Personen mit einem höheren Bildungsniveau und einem hohen Demenzmarkierungsgrad einen langsameren geistigen Verfall erfahren als Personen mit einem niedrigeren Bildungsniveau und der gleichen Anzahl von Markern im Gehirn, wurde durch die Daten nicht bestätigt.
"Die Feststellung, dass Bildung anscheinend wenig zur kognitiven Reserve beiträgt, ist überraschend, da Bildung das kognitive Wachstum und Änderungen in der Gehirnstruktur beeinflusst." so Erstautor Robert S. Wilson, Ph.D. Wilson weist darauf hin, dass dies möglicherweise daran liegt, dass die Ausbildung viele Jahrzehnte vor dem Beginn der Demenz ein Ende findet. Er glaubt, dass "Aktivitäten im späteren Leben, die Denk- und Gedächtnisfähigkeiten beinhalten wie das Erlernen einer anderen Sprache, [...]" mit zunehmendem Alter wichtiger werden könnten.
Das Team glaubt an die Stärken der Studie, beruhte die Analyse doch auf "mehr Teilnehmern, die länger als bisher beobachtet wurden", so Wilson. Gleichwohl räumen die Autoren auch Mängel ein und erklären, dass die Teilnehmenden im Durchschnitt ein relativ hohes Bildungsniveau hatten. Daher ist es möglich, dass die Auswirkungen von Bildung auf Demenz, die Forscher zuvor gemessen haben, "auf Schwankungen am unteren Ende des Bildungsspektrums zurückzuführen sind".
Obwohl diese Ergebnisse also nicht ganz eindeutig sind, tragen sie doch zu unserem Verständnis bei und unterstreichen die Bedeutung kognitiver und sozialer Aktivitäten im Alter.
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