Digitalisierung, Krankenhäuser, Pflege – die großen Reformbaustellen der Ampel
Die Koalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP will die Lehren aus der Pandemie ziehen und den Öffentlichen Gesundheitsdienst nachhaltig stärken, auch mit einem eigenen Tarifvertrag.
Neuer Anlauf bei sektorenübergreifender Versorgung
Die Koalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP will die Lehren aus der Pandemie ziehen und den Öffentlichen Gesundheitsdienst nachhaltig stärken, auch mit einem eigenen Tarifvertrag. Einen neuen Anlauf unternimmt die Ampel bei der sektorenübergreifenden Versorgung, auch um die ambulante Versorgung zu stärken. Digitalisierung, Krankenhausplanung und –finanzierung sowie die Sicherung der Pflege angesichts des Fachkräftemangels sind die wichtigsten Reformbaustellen.
Folgende Handlungsfelder haben die künftigen Koalitionäre in ihrem am 24.11. der Öffentlichkeit vorgestellten Koalitionsvertrag in der Gesundheitspolitik definiert.
Öffentlicher Gesundheitsdienst und Pandemie
- Der ÖGD soll im Zusammenspiel zwischen Bund, Ländern und Kommunen sichergestellt werden; die Einstellungsfristen im Rahmen des Pakts für den ÖGD werden verlängert.
- An die Sozialpartner wird appelliert, einen ÖGD-eigenen Tarifvertrag zu schaffen; damit besteht eine Chance, die Einkommensniveaus der Amtsärzte an das ihrer Klinikkollegen anzugleichen. Der Bund will sich an der Finanzierung beteiligen.
- Durch ein Gesundheitssicherstellungsgesetz wird eine Bevorratung von Arzneimitteln und Medizinprodukten geschaffen; regelmäßige Ernstfallübungen des Gesundheitspersonals für Pandemieszenarien sollen Pflicht werden.
- Zur Erforschung von Long-COVID/chronisches Fatigue-Syndrom wird ein deutschlandweites Netzwerk von Kompetenzzentren und interdisziplinären Ambulanzen aufgebaut.
- Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung wird zu einem Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit aufgewertet, bei dem alle Public Health-Aktivitäten des Bundes, die Vernetzung mit dem ÖGD und die Gesundheitskommunikation angesiedelt sind.
- Das RKI wird in seiner wissenschaftlichen Arbeit weisungsungebunden sein.
Digitalisierung
Die neue Bundesregierung will eine Digitalisierungsstrategie regelmäßig fortschreiben: Der Fokus liegt dabei auf der Nutzerperspektive, therapeutische Anwendungen, besserer Datennutzung für die Forschung und Entlastung bei der Dokumentation. Geplant sind:
- Regelhafte telemedizinische Leistungen inklusive Arznei-, Heil- und Hilfsmittelverordnungen sowie Videosprechstunden, Telekonsile, Telemonitoring und telenotärztliche Versorgung.
- Beschleunigte Einführung der ePA und des eRezepts; allen Bürger:innen wird eine ePA angeboten, die Nutzung ist freiwillig (Opt-out statt Opt-in).
- Schaffung eines Registergesetzes und eines Gesundheitsdatennutzungsgesetzes zur besseren wissenschaftlichen Nutzung für den Aufbau einer dezentralen Forschungsdateninfrastruktur
- Abbau von Dokumentationspflichten und Bürokratie
Gesundheitsförderung
- Schaffung eines Nationalen Präventionsplans und konkreter Maßnahmenpakete zu den Themen Alterszahngesundheit, Diabetes, Einsamkeit, Suizid, Wiederbelebung und Vorbeugung von klima- und umweltbedingten Gesundheitsschäden.
- Reduzierung der Werbemaßnahmen für Krankenkassen.Ambulante und stationäre Versorgung
Der Trend zur ambulanten Medizin soll gestärkt werden, Wettbewerbsnachteile niedergelassener Ärzt:innen bei der Vergütung abgeschafft werden. Krankenhausfinanzierung und –planung werden grundlegend reformiert. Die Pläne im einzelnen:
- Für geeignete Leistungen wird eine sektorengleiche Vergütung in Form von Hybrid-DRGs geschaffen.
- Ausbau multiprofessioneller und integrierter Gesundheits- und Notfallzentren für ambulante und kurzzeitstationäre Versorgung mit spezifischen Vergütungsstrukturen.
- Erhöhte Attraktivität bevölkerungsbezogener Versorgungsverträge (Gesundheitsregionen); Stärkung innovativer Versorgungsformen.
- Ländlicher Raum: Ausbau eines Systems von Gemeindeschwestern und Gesundheitslotsen.
- Weiterentwicklung der vertragsärztlichen und Krankenhausbedarfsplanung gemeinsam mit den Ländern und sektorenübergreifend.
- Schaffung Integrierter Notfallzentren in Zusammenarbeit mit KVen und Krankenhäusern; Option für die KVen, ambulante Notfallversorgung sicherzustellen.
- Verschränkung der Rettungs- und KV-Leitstellen mit standardisierten Einschätzungssystemen; Aufnahme des Rettungsdienstes in den Rechtskreis des SGB V.
- Aufhebung der Budgetierung im hausärztlichen Versorgungsbereich.
- Erleichterte Gründung von MVZ in kommunaler Trägerschaft mit Zweigpraxen.
- Verbesserung der Arzneimittelversorgung durch Apotheken an INZ in unterversorgten Gebieten; Ausbau des Nacht- und Notdienstes sowie Notfallbotendienste durch einen Sicherstellungsfonds; bessere Honorierung pharmazeutischer Dienstleistungen.
- Umsetzung des Nationalen Gesundheitsziels "Gesundheit rund um die Geburt" mit einem Aktionsplan; Evaluierung von Fehlanreizen bei Spontangeburten und Kaiserschnitten; Vorgabe einer 1:1-Betreuung durch Hebammen in wesentlichen Phasen der Geburt.
- Bund-Länder-Pakt für eine Krankenhausreform: kurzfristige Einsetzung einer Regierungskommission zur Erarbeitung einer Reform der gestuften Krankenhausplanung (Primär-, Grund-, Regel-, Maximalversorgung, Uniklinka) und Vergütung mit differenzierten erlösunabhängigen Vorhaltepauschalen. Kurzfristig Schaffung einer auskömmlichen Finanzierung für die Pädiatrie, Notfallversorgung und Geburtshilfe.
Arzneimittelversorgung
Engpässe in der Versorgung sollen "entschieden" bekämpft werden. Es sollen Maßnahmen ergriffen werden, um die Herstellung von Arzneimitteln, Wirkstoffen und Hilfsstoffen nach Deutschland oder in die EU zurück zu verlagern. Neben dem Abbau von Bürokratie sollen Investitionsbezuschussungen für Produktionsstätten sowie für die Gewährung von Versorgungssicherheit geprüft werden.
Das Preismoratorium für Arzneimittel ohne Erstattungs- und Festbeträge, das bald ausgelaufen wäre, soll verlängert werden. Das AMNOG soll insoweit korrigiert werden, als der Erstattungsbetrag nicht erst ein Jahr, sondern schon sechs Monate nach der Markteinführung wirksam wird.
Krankenversicherung
- Krankenkassen sollen ihre Service- und Versorgungsqualität künftig anhand von einheitlichen Mindestkriterien offenlegen.
- Die Möglichkeit für Boni an Versicherte, die an Präventionsprogrammen teilnehmen, sollen erweitert werden.
- In der PKV wird die Direktabrechnung bei Kindern und Jugendlichen eingeführt.
- Der Bundeszuschuss an die GKV wird dynamisiert.
Pflege und Pflegefachkräftemangel
In der Pflege, seit Jahren Sorgenkind in der Gesundheitspolitik, in der Pandemie besonders gefordert und noch einmal durch Berufsflucht geschwächt, setzt die Ampel auf ein starkes Signal mit rascher Wirkung: einen Pandemiebonus, für den eine Milliarde Euro budgetiert sind. Damit möglichst viel Geld eins zu eins bei den Pflegekräften ankommt, wird der Bonus mit einem Steuerfreibetrag von 3.000 Euro gekoppelt.
Die weiteren Pläne für die Pflege:
- Verbindliche Personalbemessung im Krankenhaus und in der stationären Langzeitpflege.
- Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Anhebung der Einkommen in der Altenpflege mit einer Annäherung an Klinikniveau.
- Steuerbefreiungen für Zuschläge.
- Schaffung eines allgemeinen Heilberufegesetzes für Pflegeassistenz und Rettungssanitäter:innen; Ausbildungsvergütungen; Definition neuer heilkundlicher Tätigkeiten, zum Beispiel das Berufsbild der "Community Health Nurse"; weitere Akademisierung der Pflege; Verordnung von Schmerzmitteln als delegationsfähige Leistung.
- Beschleunigung der Gewinnung ausländischer Fachkräfte.
- Beteiligung des Deutschen Pflegerates an Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses in pflegerelevanten Themen.
Das Leistungsrecht wird weiter ausgebaut: Die Finanzierung innovativer Wohnformen soll über SGB XI-Leistungen gefördert werden. Kurzzeit- und Verhinderungspflege sollen über ein "flexibles Entlastungsbudget" finanziert werden Das Pflegegeld soll ab 2022 dynamisiert werden.
Es geprüft, ob die soziale Pflegeversicherung um eine freiwillige, paritätisch finanzirte Volksversicherung ergänzt werden kann, die alle Pflegekosten abdeckt. Eine Expertenkommission soll bis 2023 Vorschläge erarbeiten. Die PKV soll dann vergleichbare Möglichkeiten anbieten.
Der Koalitionsvertrag – die Highlights
- Die Budgetierung der Honorare in der hausärztlichen Versorgung soll vollständig abgeschafft werden.
- Die Approbationsordnung wird auf mehr Digitalisierung, Ambulantisierung und berufsgruppenübergreifende Koopration ausgerichtet.
- Die Ambulantisierung wird gefördert: Schaffung einer sektorenübergreifenden Vergütung in Form von Hybrid-DRGs für geeignete Leistungen.
- Schaffung integrierter Gesundheits- und Notfallzentren.
- Grundlegende Reform der Krankenhausbedarfsplanung und –finanzierung.
- Pandemiebedingter Bonus für Pflegekräfte mit einem Budget von einer Milliarde Euro; gekoppelt mit 3.000 Euro Steuerfreibetrag. (HL)
- Streichung des Paragraphen 219a im Strafgesetzbuch: unzulässige Werbung für Schwangerschaftsabbrüche.