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DiGAs und psychische Erkrankungen: Betroffene früher erreichen?

Immer mehr DiGAs erhalten Zulassungen als therapeutische Tools – werden aber zögerlich verschrieben. Die Veranstaltung "Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs) für psychische Erkrankungen" klärt, warum viele Sorgen unbegründet sind.

Mehr Mut zur DiGA-Verschreibung

Immer mehr digitale Gesundheitsanwendungen erhalten eine Zulassung als therapeutische Tools: Stand Januar 2022 befinden sich 28 Apps im DiGA-Verzeichnis des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte, die ärztlich verschrieben und bei den Krankenkassen abgerechnet werden können – 12 davon zielen darauf ab, bei psychischen Problemen oder Suchtverhalten Hilfe zu leisten. Doch noch immer hadern viele Mediziner:innen, wenn es um die Verschreibung von DiGAs geht. Die vom DiGA-Hersteller HelloBetter ausgerichtete Online-Fortbildung "Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs) für psychische Erkrankungen" am 18.01.2022 klärte, warum viele Sorgen unbegründet sind.

Digitale Gesundheitsanwendungen – besonders für psychische Erkrankungen – könnten erheblich dazu beitragen, Betroffene früher zu erreichen und Menschen helfen, die bislang nicht vom Versorgungssystem erreicht wurden. Davon sind Prof. Dr. Ulrich Sprick, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie & Psychologischer Psychotherapeut, und Anne Etzelmüller, Psychologische Psychotherapeutin & Wissenschaftlerin für Klinische Psychologie, Digital Mental Health und Implementation Science, überzeugt. Unter der Moderation von Karolin Mertens, Psychologin, referieren die Sprecher:innen zu den Themen Gesetzliche Grundlage: Das digitale Versorgungsgesetz (DVG), Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs) für psychische Erkrankungen, Evidenz zu Wirksamkeit von digitalen Interventionen für psychische Erkrankungen sowie Verschreibungsprozess und Integration in den Praxisalltag

Die COVID-19-Pandemie, zitiert Anne Etzelmüller einführend in die Online-Fortbildung "Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs) für psychische Erkrankungen" die TK-Stressstudie 2021, habe zu einem massiven Anstieg psychischer Belastungen in der Bevölkerung geführt. Für 47 Prozent der Befragten sei das Leben seit Beginn der Pandemie stressiger geworden. Insgesamt fühle sich ein Viertel der deutschen Bevölkerung häufig gestresst, knapp zwei Dritter gelegentlich. Im Vergleich zur TK-Stressstudie von 2013 entspräche dies einem erheblichen Anstieg. Insgesamt, so Etzelmüller, lasse sich in nahezu sämtlichen (medizinischen) Bereichen eine angestiegene Inanspruchnahme professioneller Hilfe bei extremem Stress beobachten. Dennoch würden noch immer nicht alle Betroffenen die benötigte Hilfe erhalten. Digitale Gesundheitsanwendungen könnten hierbei ein Werkzeug zur Hilfe darstellen.

Digitale Gesundheitsanwendungen als neuer Leistungsbereich

Grundlage für die Nutzung von DiGAs bildet das Digitale-Versorgungs-Gesetz. Das Gesetz trat im Dezember 2019 in Kraft, seit Mai 2020 können Hersteller die Aufnahme von DiGAs ins Register beantragen, die ersten Gesundheitsanwendungen wurden im Oktober 2020 aufgenommen. Mit digitalen Gesundheitsanwendungen, erläutert Prof. Sprick weiter, sei neben Heilmitteln, Hilfsmitteln und Arzneimitteln, ein völlig neuer Leistungsbereich für Patient:innen entstanden. Dabei müssten DiGAs eindeutig einen positiven Versorgungseffekt aufweisen:

  • Indikationsbereich: DiGAs sollten in jedem Fall der Behandlung, nicht der Prävention von Erkrankungen dienen. Ihre Hauptfunktion basiere auf digitaler Technologie, außerdem handle es sich um BfArM-geprüfte Medizinprodukte der Klasse I oder IIa; CE-Kennzeichnung
  • Sicherheit: Neben Anforderungen an Funktionstauglichkeit und Patientensicherheit müssten DiGAs auch die Anforderungen des BfArM hinsichtlich Datenschutz und Datensicherheit gewährleisten
  • Wirksamkeit: Digitale Gesundheitsanwendungen müssten über einen nachweislichen medizinischen Nutzen oder eine patientenrelevante Strukturverbesserung verfügen. Die vorläufige Aufnahme ins Register erfolge, sobald ein Evalutationskonzept vorgelegt wurde, der medizinische Nachweis stehe dabei allerdings noch aus. Erst nach einjähriger Erprobungsphase – wenn die Wirksamkeit etwa in Form randomisiert-kontrollierter Studien erwiesen wurde – erfolge die permanente Aufnahme ins DiGA-Verzeichnis
  • Kostenübernahme: Das Praxisbudget werde nicht belastet, da die Kosten für Gesundheitsanwendungen von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden

Anschließend geht Anne Etzelmüller konkret auf DiGAs für psychische Erkrankungen ein. Diese böten sowohl für Ärzt:innen als auch Psychotherapeut:innen verschiedene Anwendungsfelder. So hätten Ärzt:innen die Möglichkeit, durch Gesundheitsanwendungen verhaltenstherapeutische Soforthilfe für ihre Patient:innen oder ergänzende Tools zur ärztlichen Behandlung psychischer Beschwerden bereitzustellen. Ebenso könnten DiGAs verschrieben werden, um Patient:innen die Wartezeit auf einen Psychotherapieplatz zu überbrücken oder zur Nachsorge und Rückfallprophylaxe am Ende einer Behandlung eingesetzt werden. Psychotherapeut:innen könnten DiGAs wiederum verschreiben, um die Wartezeit auf einen Therapieplatz zu überbrücken oder auch um Patient:innen zu unterstützen, denen sie keinen Therapieplatz anbieten können. Außerdem könnte die Psychotherapie auf diesem Weg zusätzlich begleitet und inhaltlich vertieft werden oder Nachsorge und Rückfallprophylaxe durch Gesundheitsanwendungen erfolgen. 

DiGAs: hoher Nutzen bei vielen psychischen Erkrankungen

Besonders im Psych-Bereich gäbe es DiGAs, die ein breites Spektrum unterschiedlicher Indikationen abdecken – von Depressionen und Burnout über Angst und Panik, Insomnie, Abhängigkeit bis hin zu Chronischen Schmerzen. Durch unterschiedlichste Anwendungsbereiche und Apps für unterschiedlichste Indikationen, betont die Referentin, hätten DiGAs also eine Vielzahl von Vorteilen: ihr Angebot sei niedrigschwellig, Gesundheitsanwendungen könnten den Einstieg in die Therapie erleichtern und ihre Anonymität könnte bei Betroffenen die Sorge vor Stigmatisierung und Schamgefühle reduzieren. Zudem seien DiGAs evidenzbasiert, orts- und zeitunabhängig, schnell verfügbar und böten Trainingsmöglichkeiten im Alltag.
Dennoch gäbe es auch Nachteile und mögliche negative Effekte, die in einigen Fällen gegen eine Verschreibung von DiGAs sprechen: Bringt die Gesundheitsanwendungen nicht den erwünschten Effekt, könnte die gesundheitsbezogene Selbstwirksamkeitserwartung reduziert werden, Betroffene eine negative Einstellung gegenüber psychologischen Interventionen entwickeln und gegebenenfalls eine Symptomverschlechterung eintreten. Zudem erfordere die Nutzung von DiGAs eine hohe Selbststeuerung und setze digitale Kompetenz und Offenheit voraus.

Dennoch, heben die Referierenden hervor, wiesen viele unterschiedliche Studien – etwa eine Metaanalyse von Ebert und Karyiotakti (2018) zu Depressionen – auf einen hohen Nutzen von DiGAs bei psychischen Indikationen hin. Insgesamt sprechen laut Etzelmüller, Sprick und Mertens somit viele Faktoren für die Verschreibung Digitaler Gesundheitsanwendungen: Diese seien für eine Vielzahl unterschiedlicher Indikationen wirksam, es könnten ähnlich gute Ergebnisse wie in der klassischen Face-to-Face-Psychotherapie erzielt werden, und klinische Charakteristika seien in der Regel nicht für den Erfolg entscheidend. Außerdem sei der Prozess der Verordnung und Abrechnung einfach: Die digitale Gesundheitsanwendung wird über Rezeptmuster 16 ärztlich oder psychotherapeutisch verschrieben, die Patientin oder der Patient reicht bei der GKV das Rezept ein und die Krankenkasse übermittelt im Umkehrschluss einen Freischaltcode. Anschließend schaltet der Patient / die Patientin die DiGA frei und der App-Hersteller rechnet mit der Krankenkasse ab.

Take away: wichtigste Arzt-Fragen zu DiGAS im Überblick

  • Machen DiGAs meine Arbeit als Ärztin oder Arzt überflüssig?: Prof. Sprick widerspricht vehement, das Gegenteil sei der Fall. Digitale Gesundheitsanwendungen könnten zwar als Ergänzung der zur Verfügung stehenden therapeutischen Mittel genutzt werden, aber niemals die Therapie ersetzen. 
  • Wichtigstes Kriterium für eine Kostenübernahme durch die Krankenkassen: Hierfür müsse lediglich bei den zu behandelnden Patient:innen eine entsprechende Diagnose gestellt werden, die den Einsatz der DiGA rechtfertigt.
  • Können DiGAs gegen psychische Erkrankungen auch in der Hausarztpraxis verschrieben werden?: Ja, auch in der Hausarztpraxis können entsprechende DiGAs ohne Budgetbelastung verschrieben werden.
  • Welche digitale Gesundheitsanwendung soll ich gegen psychische Erkrankungen verschreiben?: Hier, so Sprick, sollte man am besten genau so vorgehen, wie bei der Verschreibung von Medikamenten auch: die Verschreibung von DiGAs sollte nach Gefühl und persönlicher Erfahrung, was den Patient:innen hilft, erfolgen.
  • Gibt es DiGAs zur Verwendung gegen PTBS?: Eine digitale Gesundheitsanwendung gegen PTBS befindet sich in der Pipeline, ist allerdings noch nicht zugelassen
  • Kann ich auch DiGAs verschreiben, wenn ich die Patientin oder den Patienten nach drei Erstgesprächen nicht übernehme?: Ja, auch in diesem Fall ist eine Verschreibung möglich.
  • Sollten DiGAs für psychische Erkrankungen auch bei Patient:innen mit suizidalen Tendenzen verschrieben werden?: Die Referierenden betonen, bei der Wahl von DiGAs zur Behandlung sollte grundsätzlich Sicherheit bestehen, dass keine Suizidalität im Raum steht. Außerdem sei Suizidalität bei digitalen Gesundheitsanwendungen ein noch zu wenig untersuchtes Feld.

Quelle: CME-Fortbildung "Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs) für psychische Erkrankungen" auf www.hellobetter.de; 18.01.2021, 17-19 Uhr