Der weiße Pudel Rocket mit den beigefarbenen Ohren beobachtet sein Frauchen Annegret Pross während des Spaziergangs intensiv. Auf einmal stellt er sich Pross in den Weg und blickt sie an. Das ist für die Diabetikerin aus dem unterfränkischen Margetshöchheim bei Würzburg ein wichtiger Warnhinweis: Ihr Insulinspiegel könnte zu niedrig sein.
Sie lässt den Pudel deshalb vorsichtshalber an ihrem Unterarm riechen und Rocket pfötelt deutlich. Er drückt mit seiner Pfote ihren Arm fest nach unten. Damit ist klar, dass die 57-Jährige schnell etwas gegen ihren Unterzucker tun muss, damit sie nicht ohnmächtig wird. Im schlimmsten Fall kann sogar ein lebensgefährliches Koma drohen. Pudel Rocket ist ein ausgebildeter Diabetiker-Warnhund. Er riecht die Gefahr für sein Frauchen.
“Rocket schlägt bei einem Unterzucker-Wert von 70 Milligramm pro Deziliter an. Dann wird er nervös. Bis 60 kann ich mir noch selbst helfen”, sagt die gelernte Krankenschwester, die mittlerweile aufgrund ihrer Krankheit als schwerbehindert gilt und erwerbsunfähig ist. Ein gesunder Mensch hat morgens einen Blutzuckerwert von 70 bis 100 mg/dl. Sie ist seit 1989 Diabetikerin Typ 1. Das heißt, ihre Bauchspeicheldrüse produziert kein Insulin, deshalb ist Pross von regelmäßigen Insulinspritzen abhängig.
Bevor der Pudel die Lizenz zum Lebenretten hatte, musste ihr Mann oft den Notarzt alarmieren oder sie in die Notfallpraxis fahren. Fünfmal musste sie bereits nachts eingeliefert werden, weil sie die gefürchtete Unterzuckerung nicht rechtzeitig wahrnahm. “Mein Mann merkt das erst, wenn ich krampfe wie ein Epileptiker, weil das Gehirn nicht mehr genügend Zucker hat.”
Vor fünf Jahren fand die Diabetikerin bei der Tierpsychologin Maja Wonisch aus dem baden-württembergischen Scheer endlich Hilfe. Sie bildet in ihrem Hundezentrum am Bodensee speziell Diabetiker-Warnhunde aus und war eine der ersten in Deutschland. “In den USA werden schon seit Jahren solche Hunde ausgebildet. Hier setzt sich der Diabetiker-Warnhund langsam durch”, sagt Wonisch. 90 Hunde hat sie bereits trainiert. Es gibt mehrere vergleichbare Hundeschulen. Die Zuverlässigkeit der Tiere liege bei 97 Prozent.
Geeignet sind laut Wonisch, die sich seit 1996 mit der Diabetiker-Warnhund-Ausbildung beschäftigt, fast alle Hunde. Sie sollten keine Erbkrankheiten haben, ein ruhiges ausgeglichenes Wesen besitzen, eine gute Nase und die absolute Fixierung auf Frauchen oder Herrchen haben. Pudel Rocket brachte alle diese Eigenschaften mit.
Ein gutes halbes Jahr ging Pross mit ihm in die spezielle Hundeschule. Dort wurde er auf den besonderen Geruch von Pross trainiert, den sie ausströmt, wenn ihr Blutzuckerspiegel unter 70 Milligramm Prozent fällt. Dafür musste er Suchspiele mitmachen, das Apportieren beherrschen und aus einem Riesenberg Wäsche genau das Hemd mit Pross’ Unterzucker-Duft herausfischen. Am Ende müssen Hund und Halter eine Prüfung bestehen und bekommen ein Diplom. Rund 4000 Euro kostet die Ausbildung. «Wenn sie einen fertig ausgebildeten Hund haben wollen, ohne mitzuarbeiten, kann das leicht bis zu 15 000 Euro kosten», sagt Ausbilderin Wonisch.
Der Düsseldorfer Diabetologie-Chefarzt Stephan Martin ist dennoch zurückhaltend. “Es gibt da derzeit einen ziemlichen Hype, aber keinen zentralen Standard bei der Ausbildung der Hunde”, sagt der Mediziner, der Mitglied in der Deutschen Diabetes Gesellschaft ist. Wenn der eigene Hund den Unterzucker erkennen könne, sei das eine schöne Ergänzung. “Besser noch sind Hypoglykämie-Wahrnehmungstrainings, die überall in Deutschland angeboten werden und evaluiert sind”, so Martin. Eine weitere Möglichkeit seien neu entwickelte Geräte, die den Unterzucker kontinuierlich messen. Beides helfe den Betroffenen, den Unterzucker selbst wieder besser zu bemerken.
Zuschüsse von der Krankenkasse gibt es bislang in den wenigsten Fällen. Verstehen kann Pross das nicht. “Die Notarztkosten sind doch wesentlich teurer als die Ausbildung für den Hund.” Eine Sprecherin des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenkassen erklärt: Assistenzhunde als Hilfsmittel “müssen laut ständiger Rechtsprechung die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigen oder mildern”. Es reiche also nicht, wenn mit dem Hund nur Nachteile in ganz bestimmten Lebensbereichen ausgeglichen werden. Ein Blindenhund wäre in diesem Sinne ein Hilfsmittel, das die Krankenkasse übernimmt, ein Diabetiker-Warnhund nicht.
Hunde-Ausbilderin Wonisch rät dennoch, einen Antrag bei der Krankenkasse einzureichen und sich dazu vom Arzt einen Behinderten-Begleithund als Hilfsmittel verschreiben zu lassen. In jedem Fall ließen sich die Kosten von der Steuer absetzen, viele Gemeinden erlassen dem Assistenzhund die Hundesteuer.
Rocket trägt seit der Ausbildung immer ein Notfallgeschirr, das Traubenzucker, Zucker-Messgerät, Spritze und Taschenlampe zur Ersten Hilfe enthält. Diabetikerin Pross hat ihre investierten 4000 Euro nicht bereut. Seit der Pudel über sie wacht, war nicht ein einziger Notarzteinsatz mehr nötig. “Rocket ist mein Glück, meine Sicherheit und mein Schutz. Ich kann endlich wieder ruhig schlafen.”
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Text und Foto: dpa /fw