Unter dem Motto "Diabetes – nicht nur eine Typfrage" findet derzeit die 54. Jahrestagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft in Berlin statt. Noch bis einschließlich Samstag versammeln sich hier rund 7.000 Fachleute, um die aktuellsten Entwicklungen in der Diabetesforschung und -behandlung zu diskutieren. Wie in allen Bereichen der Medizin, stehen auch hier Fragen nach Chancen, Nutzen und Risiken der Digitalisierung sowie des Einsatzes von Künstlicher Intelligenz in Diagnostik und Therapie im Mittelpunkt.
Prof. Andreas Fritsche vom Institut für Diabetesforschung und Mateabolische Erkrankungen am Universitätsklinikum Tübingen verbindet diese Fragen mit dem Motto des Kongresses: In seinem Vortrag wird deutlich, dass auch in der Diabetologie der Weg zur Erkenntnis über eine zunehmend ausdifferenzierte, spezifischere und personalisiertere Diagnostik und Therapie der jeweiligen Erkrankungsformen führt.
Derzeit gibt es in Deutschland ungefähr 7,5 Millionen Menschen mit Diabetes - Tendenz steigend. Bei ca. 500.000 Neuerkrankungen jährlich rechnet man mit einer Zahl von 11 Millionen Erkrankten bis zum Jahr 2040. 95 Prozent der Betroffenen leiden an einem Typ-2-Diabetes. Diese Zahlen machen bereits deutlich, wie groß der Bedarf an geeigneten Diagnose- und Therapiemethoden ist. Besonders die zuverlässige Unterscheidung zwischen Typ-1- und Typ-2- Diabetes ist essenziell und kann überlebenswichtig sein. Mithilfe differenzierterer Diagnoseverfahren wird bereits heute eine Entwicklung deutlich: Die Zeiten der Universalprävention und -therapie sind vorbei. Wie beispielsweise in der Onkologie schon seit längerem praktiziert, wird sich auch die Diabetologie hin zu einer personalisierten Präzisionsprävention und -therapie bewegen.
Die Unterscheidung verschiedener Diabetes-Phänotypen ist herausfordernd. Zunächst müssen Typ-1- und Typ-2-Diabetes genau voneinander abgegrenzt werden. Dabei kommt der Bestimmung der Insulineigenproduktion (C-Peptid) große Bedeutung zu, da diese beim Typ-1-Diabetes stark vermindert ist. Der Typ-2-Diabetes versammelt hingegen ganz unterschiedliche Krankheitsformen in einem Krankheitsbild, die – so schlägt Fritsche vor – wie die Krebserkrankungen nach den betroffenen Organen eingeteilt werden könnten, die für die Erkrankung maßgeblich sind: Bauchspeicheldrüse, Leber, Fettgewebe, Muskel oder Gehirn könnten zukünftige Kategorien für die Einordnung verschiedener Formen von Typ-2-Diabetes bilden.
Neue analytische Methoden werden daher benötigt, um datenbasierte Diabetes-Cluster zu erstellen. Hier ist es vor allem Machine Learning, mit dessen Hilfe riesige Datensätze erfasst und analysiert werden können, um sogar ähnlich gelagerte Erscheinungsformen von Diabetes voneinander zu unterscheiden. Im letzten Jahr gelang es bereits, vier Untergruppen von Typ-2-Diabetes herauszuarbeiten, die jeweils unterschiedlichen Therapiebedarf und unterschiedliche Risiken für Folgeerkrankungen mit sich bringen. Zu nennen sind hier Menschen mit schwerem Insulindefizit oder schwerer Insulinresistenz, aber auch mit mildem Altersdiabetes oder mildem Adipositas-Diabetes. Ebenso weisen die Analysedaten auch im Bereich der Prädiabetes auf ganz unterschiedliche Risikoprofile hin, die entsprechend in Cluster mit Hochrisikophänotypen oder in Gruppen mit niedrigem Risiko eingeteilt werden können.
Diese Erkenntnisse sind auch von immenser Bedeutung, wenn es um die Frage nach dem Therapiebedarf geht. Hier kann ganz individuell entschieden werden, ob zum Beispiel eine medikamentöse Therapie notwendig ist oder ob ebenso erfolgreich mit regulatorischen Maßnahmen im Bereich der Lebensführung gearbeitet werden kann. Ebenso wird ersichtlich, für welche Personen sehr schnell einer geeigneten Therapie eingeleitet werden muss, um schwere Folgeerkrankungen zu verhindern. Die Kosten-Nutzen-Abwägung zur Verabreichung von Medikamenten spielt ebenfalls eine Rolle. Durch die Bildung von Subphänotypen kann gewährleistet werden, dass diejenigen PatientInnen von den – teilweise sehr teuren – neuen Medikamenten profitieren, die sie auch tatsächlich benötigen, und Personen mit entsprechend geringerem Bedarf zurückhaltender therapiert werden.
Quelle: Diabetes Kongress 2019, Andreas Fritsche: "Es gibt mehr als 1 und 2: Neue Diabetes-Typen und Subklassen", 30.05.2019