Die noch unveröffentlichten Berechnungen stammen vom Deutschen Diabetes-Zentrum (DDZ) in Düsseldorf und beziehen sich auf das Jahr 2010, in dem insgesamt fast 860.000 Menschen in Deutschland verstarben. Knapp 138.000 Todesfälle und damit 16% der Gesamtmortalität waren dabei letztlich auf einen Typ-2-Diabetes zurückzuführen. Der Epidemiologe Dr. Wolfgang Rathmann präsentierte diese Studienergebnisse vor wenigen Tagen bei einer Fachveranstaltung des dänischen Pharmaunternehmens Novo Nordisk zum Thema "Diabetes 2030" in der Königlich Dänischen Botschaft in Berlin.
Für die aktuelle Auswertung wurde erstmals auf eine neue Datenbank zurückgegriffen, die Informationen zu etwa 65 Millionen GKV-Versicherten enthält. Der Clou: Es wurden auch die tödlichen Diabetes-Folgen wie etwa Herzinfarkte oder Schlaganfälle berücksichtigt. Dadurch ergibt sich ein 5,5fach erhöhtes Sterblichkeitsvolumen gegenüber der offiziellen Todesursachenstatistik. Letztere weist für dasselbe Jahr lediglich etwas mehr als 23.100 diabetesbedingte Sterbefälle aus.
Noch ein paar weitere, teilweise bereits bekannte Zahlen beleuchten die Auswirkungen der Stoffwechselerkrankung:
Rathmanns eigenen Schätzungen zufolge, die auf aktuellen Inzidenzraten von 2016 basieren, ein Diabetes bei etwa 30% aller bzw. 35% der tödlichen Myokardinfarkte, 32% der Schlaganfälle, 25% der Neuerblindungen, 70% der Amputationen und 50% der Fälle mit terminaler Niereninsuffizienz.
Der Diabetes als treibender Faktor für kardiovaskuläre Erkrankungen – handelt es sich hier tatsächlich um einen kausalen Zusammenhang oder nur um eine statistische Korrelation? Methodisch müsse man die Kausalität verneinen, klinisch aber bejahen, so der Diabetologe Professor Diethelm Tschöpe von der Universität Bochum. Der Vorsitzende der Stiftung "Der herzkranke Diabetiker" mahnte, dass das eigentliche Problem beim Diabetes häufig verdrängt wird: die Folgeerkrankungen, die vor allem das Herz und die Gefäße betreffen. So sind etwa die Spätfolgen der Hypertonie gravierender als die des erhöhten HbA1c-Werts.
Beim Erreichen der Therapieziele gab es in den vergangenen beiden Jahrzehnten immerhin deutliche Fortschritte, wie die Daten aus der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1; 2008-2011) zeigen. Allen voran beim HbA1c-Wert, der in 65% der Fälle auf unter 7% abgesenkt werden konnte. Im Jahr 1998 war das nur bei 32% der Patienten gelungen. Das ergibt eine Verbesserung um absolute 33%. Andererseits bedeutet dies, dass vor ein paar Jahren immer noch ein Drittel der Diabetiker nicht gut eingestellt war. Gleiches gilt noch ausgeprägter für Cholesterin (Zielerreichung von 14% auf 42% verbessert) und Blutdruck (32% => 47%).
Richtig schlecht sieht es allerdings bei den Lebensstil-Interventionen aus: Die Zahl der Diabetes-Patienten, die mindestens zwei Stunden pro Woche sportlich aktiv sind, wurde lediglich um 11% gesteigert (7% => 18%). Bei der Raucherentwöhnung hat sich die Situation sogar um 2% verschlechtert (20% => 18%).
Hier gibt es Handlungsbedarf. Wird das auch in der Politik so gesehen? "Wir hätten die Daten für die politische Awareness nicht gebraucht", meinte die SPD-Bundestagsabgeordnete Dr. Sabine Dittmar bei der Veranstaltung in der dänischen Botschaft. Die Allgemeinärztin sieht mit Blick auf die quantifizierte Diabetes-Mortalität kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem.
Das gilt wohl auch für die Politik selbst. Ein Nationaler Diabetes-Plan ist schon lange in der Diskussion, wurde aber nie umgesetzt. Das ist auch erstmal nicht absehbar. Dittmar hofft aber, dass es zumindest eine Nationale Diabetes-Strategie noch in dieser Legislaturperiode geben wird.
Dabei muss weit über den Tellerrand des Gesundheitswesens hinaus gedacht werden. Für die Politikerin kommen entsprechende Angebote in Kita und Schule, Werbeverbote für Zuckerprodukte, Ampelkennzeichnung von Lebensmitteln und Maßnahmen in der (Umsatz-) Besteuerung in Frage. Das Präventionsgesetz sei ein guter Schritt gewesen, so Dittmar, aber "die Verhältnisprävention ist viel zu kurz gekommen."
Was lässt sich mit Blick auf die Bundestagswahlen für eine bessere Diabetes-Prävention und -Versorgung erreichen? Der Gesundheitsökonom Prof. Jürgen Wasem weiß aus eigener Erfahrung, wie es geht: "Drei Zeilen müssen in den Koalitionsvertrag", neben einer verbesserten Finanzierung etwa mehr Mitsprache der Patientenvertreter im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). Zudem sei mit den Ländern zu vereinbaren, wie die Patientenverbände gestärkt werden können. "Was man nach der Sommerpause fordern muss, hängt davon ab, ob die Nationale Diabetes-Strategie kommt."
Der Experte äußerte sich in einem abschließenden Interview noch zum Status quo beim AMNOG (Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz) – einem anderen politischen Handlungsfeld, in dem das Zusammenwirken von Versorgungs- und Regulierungsebene dringend verbessert werden muss. Das gilt besonders für die Diabetologie, in der sich die Hersteller mit zahlreichen Negativentscheidungen konfrontiert sehen, wenn es um die Anerkennung eines Zusatznutzens für ihre neu eingeführten Produkte geht.
Wasem bemängelte, dass der GKV-Spitzenverband sowohl in die Nutzenbewertung als auch in die Preisfestlegung für neue Präparate involviert ist. Dass ungeachtet der medizinischen Aktualität häufig niedrigpreisige Vergleichstherapien als (unerfülltes) Prüfkriterium gefordert werden, verwundert vor diesem Hintergrund nicht. Zudem forderte der Experte eine Begrenzung der Krankenkassen-Macht im Gemeinsamem Bundesausschuss (G-BA) zugunsten der Patientenvertretung.
Als derzeitiger Unparteiischer Vorsitzender der Schiedsstelle zur Festsetzung von Preisen für patentgeschützte Arzneimittel weiß der Wissenschaftler, wovon er spricht. Wasem bedauerte, dass die ursprünglich vorgesehene Option der privaten Zuzahlung über den Erstattungsbeitrag hinaus mit dem Argument einer drohenden Zweiklassenmedizin nicht realisiert wurde.
Recht problematisch ist aus Sicht des Gesundheitsökonomen auch die Festlegung von Mischpreisen für Präparate, von denen nur ein Teil der Patienten profitiert. Besser wäre eine nach Subgruppen differenzierte Nutzenbewertung. So kommt es auf KV- bzw. Länderebene zum Versuch, teurere Medikamente aus der Indikation herauszuhalten, obwohl ein entsprechender Abschlag auf den Zusatznutzen auf Bundesebene bereits verhandelt wurde.
All das ist für eine patientenorientierte, fortschrittliche Diabetes-Versorgung wenig hilfreich. Das gilt auch für einen weiteren Umstand, auf den Wasem hinwies: Innovationen, die auf eine leichtere Handhabung und verbesserte Adhärenz abzielen, wie etwas das Single-Pill-Konzept, kommen im herrschenden Raster der Nutzenkriterien gar nicht zur Geltung.
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