Wie weit darf ein Gesundheitssystem auf Kostensenkung und Rendite getrimmt werden? DGB und Verdi finden: nur sehr begrenzt. Die Gewerkschaften fordern einen Umbau der Strukturen. Unzufrieden mit dem aktuellen System sind auch andere.
Ärztemangel, hohe Arbeitsbelastung, Krankenhäuser in Turbulenzen - unabhängig von der Corona-Krise zeigen sich immer wieder Schwachstellen in der Struktur des Gesundheitssystems. Dass es Veränderungen braucht, darin sind sich viele Seiten einig. Wie die in der stationären oder auch ambulanten Versorgung sowie bei der Finanzierung des Systems aussehen sollen, dazu gehen die Meinungen weit auseinander. Vorschläge von DGB und Verdi heizen die Debatte nun inmitten der Pandemie neu an. Genau die habe gezeigt, dass es so nicht weitergehen könne, argumentieren die Gewerkschaften.
DGB-Landeschef Dietmar Muscheid rechnet vor, die Zahl der Krankenhäuser in Rheinland-Pfalz sei seit 1990 von 115 auf 83 gesunken. Die Arbeit etwa von Pflegepersonal sei unterbezahlt, die Arbeitsbedingungen seien schlecht trotz großer Verantwortung. Als ein Grund machen DGB und Verdi aus, dass betriebswirtschaftliches Denken die Branche dominiere. Dazu trage das System der Abrechnung medizinischer Leistungen über Fallpauschalen bei - das DRG-System.
Der Verdi-Pflegebeauftragte Michael Quetting sagte, Deutschland habe die Corona-Krise bislang deshalb recht gut gemeistert, weil große Teile des DRG-Systems außer Kraft gesetzt worden seien. Zuletzt sei auch für bereitgehaltene Betten gezahlt worden, auch wenn diese leer stünden. Das DRG-System bilde keine Reserven, etwa in Form von Schutzausrüstung in Lagern, denn das rechne sich nicht. Niemand könne sich in diesen Strukturen einer Erlösorientierung entziehen - auch nicht kommunale oder kirchliche Klinikbetreiber, selbst wenn sie es wollten. "Sie können nur mit den Wölfen tanzen", sagte Quetting.
"Die Gesundheitsversorgung darf keinem privaten Unternehmen überlassen werden", heißt es im Konzept von DGB und Verdi. Investoren hätten nunmal Renditeerwartungen, sagte Muscheid. "Das ist Geld, das aus dem System rausgeht." Auch der stellvertretende Vorsitzende des Vorstands der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Rheinland-Pfalz, Andreas Bartels, sagt, Begriffe wie Shareholder-Value oder Gewinnmaximierung passten nicht recht zum Thema Gesundheit, große Krankenhauskonzerne seien aber ihren Aktionären verpflichtet. Vor Jahren habe es im Gesundheitssystem einen gewissen Druck gegeben hin zu mehr Wirtschaftlichkeit gegeben, auch um die Krankenkassenbeiträge einigermaßen im Rahmen zu halten. "Dass es dann zu einer geballten Ökonomisierung gekommen ist, sehen wir auch bei der KV kritisch."
Peter Förster, Landesvorsitzender des Verbands der Krankenhausdirektoren Rheinland-Pfalz/Saarland und Geschäftsführer des Westpfalz-Klinikums, umschreibt das System so: "Es ist Wille der Politik, dass Krankenhäuser als Wirtschaftsbetriebe zu führen sind." Ergo müssten Betreiber zumindest ausgeglichene Jahresabschlüsse erreichen, manche außerdem Renditen für ihre Kapitalgeber erzielen. Auch Förster ist kein DRG-Fan. Mit dessen Einführung habe der Gesetzgeber darauf hinwirken wollen, dass Kliniken bei der Behandlung von PatientInnen wirtschaftlicher vorgehen. Alle Fälle würden annähernd identisch vergütet. "Für mich ist diese Abrechnungsform der Kern des Übels." Geändert werden kann dieses System nur auf Bundesebene.
Bartels von der KV sagt: "Es schwankt zwischen Planwirtschaft und freiem Wettbewerb." Einerseits gebe es zum Beispiel bei der Landeskrankenhausplanung klare Vorgaben, andererseits kauften etwa im ambulanten Bereich immer mehr Investoren oder Hedgefonds hochprofitable Praxen auf. Das sei bei Dialyse-, Augenarzt- oder Zahnarztpraxen zu beobachten, dort seien ÄrztInnen dann angestellt. Käufer einer Dialysepraxis könne etwa ein Hersteller von Dialysegeräten sein, Käufer einer Zahnarztpraxis könne eine Firma mit Dentallabor sein. "Die schneiden sich mehrere Stücke vom Kuchen ab."
Bartels hält das Fallpauschalen-System nicht für den Kern der wirtschaftlichen Probleme zahlreicher kleiner Kliniken. Das System sei zwar für universitäre Einrichtungen mit Forschung und Lehre schwierig, sonst kämen vielen Kliniken aber durchaus damit aus. Er hält eine Krankenhauslandschaft mit weniger Häusern für sinnvoll. Es brauche nicht die vielen kleinen Kliniken in der Fläche, oft würden PatientInnen ohnehin in größere gebracht, wo SpezialistInnen seien.
Ähnlich klingt das bei Jörn Simon, Leiter der Landesvertretung der Techniker Krankenkasse (TK). Er sagt: "Bereits vor aber auch während der Pandemie hat sich gezeigt, dass die Bündelung von Leistungen und Spezialisierungen der einzig erfolgversprechende Weg ist, um für die Menschen eine qualitativ hochwertige Versorgung sicherzustellen." Bei Reformen müsse darauf gezielt werden, ineffektive Parallelstrukturen zu vermeiden und gleichzeitig Versorgungssicherheit zu schaffen. Sympathie für eine stärkere Verzahnung von stationärem und ambulantem Bereich hat auch er. Sofern in der Fläche keine niedergelassenen FachärztInnen zur Verfügung stehen, werde man Möglichkeiten mit einem dortigen Krankenhaus finden, damit die Versorgung gewährleistet sei.
Verdi-Landesbezirksfachbereichsleiter Frank Hutmacher macht weitere Schwachstellen der aktuellen Strukturen aus. Das Land trage in der Regel die Investitionskosten von Kliniken, aber nicht gänzlich. Deswegen müssten Krankenhäuser den verbliebenen Teil dieser Kosten über die Fallpauschalen hereinbekommen, die es für Behandlungen gebe. Heraus komme ein Werben um die bestbezahlten PatientInnen.
"Die jetzige Finanzierung ist darauf ausgerichtet, den Krankenhaus-Markt auszudünnen", sagt Förster vom Verband der Krankenhausdirektoren. "Langsam und ohne Struktur." Wenn die Kliniklandschaft verändert werden solle, müsse das gesamte Gesundheitssystem umstrukturiert werden. "Und so etwas muss geplant werden. Gesundheit ist eine Daseinsvorsorge, die keinen ökonomischen Zwängen unterliegen darf."
DGB und Verdi bringen einen "Masterplan Krankenhaus" ins Spiel. Für fünf Regionen solle innerhalb von fünf öffentlichen Gesellschaften der Bedarf an Gesundheitsleistungen ermittelt werden. Es solle Krankenhaus-Budgets geben, die auch Kosten für das Vorhalten von Geräten und Personal berücksichtigten. Außerdem sieht das Konzept eine Integration von FachärztInnen in Krankenhäusern vor, gerade auf dem Land, wo es nicht ausreichend ambulante fach- und kassenärztliche Leistungen gibt. Unter dem Strich erwartet Quetting nicht, dass dabei mehr Kosten entstehen, weil etwa Doppelstrukturen abgebaut würden.