Patient:innen entscheiden sich manchmal gegen eine Behandlung nach medizinischen Leitlinien. Auch wenn Therapieempfehlungen individuell angepasst sind, erleben Behandelnde, dass Menschen mit Diabetes nur Teile davon umsetzen. Manchmal müssen sie zuschauen, wie ein Mensch immer kränker wird. Sie ermahnen, warnen, plädieren, aber es ändert nichts. Die neuropathischen Füße werden trotz Aufklärung weiterhin bis zur Amputation belastet, ganz junge Menschen weisen über Jahre einen HbA1c von 12% auf, nach dem zweiten Herzinfarkt steigt das Gewicht weiter.
Das Symposium "Umgang mit dem Scheitern: der Patient entscheidet sich anders" auf der DDG-Herbsttagung rückte die Frage in den Mittelpunkt, wie es möglich ist, diese Patient:innen dennoch medizinisch und menschlich gut zu betreuen, ohne dass die Behandelnden leiden.
Prof. Dr. Frank Petrak vom Zentrum für Psychotherapie zeigte auf, warum die Entscheidungen der Patient:innen gegen Therapieempfehlungen kein Scheitern der Behandelnden sein muss.
Non-Adhärenz ist ein Prädiktor für einen negativen Outcome und hat verheerende Auswirkungen. Unzählige Studien widmen sich mit therapeutischem Optimismus der Aufgabe, Diabetiker:innen zu motivieren. Damit setzte sich Frank Petrak auseinander. Diese Haltung sei oft paternalistisch ("Wie Sie Ihre Diabetiker in die Sportschuhe bekommen"). Das aber ist keine nachhaltige Motivation. Der Grund: Extrinsische Motivation funktioniert nicht. Für langfristige Verhaltensänderungen muss intrinsische Motivation aufgebaut werden.
Dieser Satz ist entlastend für die Behandelnden, die manchmal verzweifelt nach Lösungen suchen.
Das müssen sich die Behandelnden klar machen.
Sie können den Patient:innen dabei helfen, sich selbst zu motivieren. Ein Konzept dafür heißt: "Mentales Kontrastieren mit Wenn-Dann-Plänen". Diese Methode zur Umsetzung kurz- und langfristiger Ziele bekam den etwas griffigeren Namen: WOOP, das heißt Wish-Outcome-Obstacle-Plan. Hier wird im Gegensatz zum positiven Denken auf die Hindernisse bei der Problemlösung fokussiert.
Dieses Schema kann in der Therapie gemeinsam erarbeitet werden. Wenn die Patient:innen verstanden haben, wie es funktioniert, können sie auch selbst ein Arbeitsblatt ausfüllen.
Evidenzbasierte Medizin ist nicht nur leitliniengerechte Behandlung nach aktuellem Forschungsstand. Dazu gehört ebenfalls die individuelle klinische Erfahrung, also die Frage: wie passt diese Empfehlung zu diesem Menschen? Und schließlich sind Ziele, Werte und Wünsche der Patient:innen zu berücksichtigen. Erst die Schnittmenge dieser drei Aspekte bildet die evidenzbasierte Medizin.
In der Leitlinie wird proaktiv überlegt, was zu tun ist, wenn ein Patient sich nicht so verhält, wie vereinbart. Grundprinzip: Die Barrieren verstehen, die Patient:innen haben. Es gibt viele Faktoren (Kontext, Kompetenz), die dahinterstecken können. Bei psychisch Kranken, Depressiven ist zu bedenken, dass es für sie sehr schwer ist, zu tun, was sie sich vorgenommen haben. Das ist Teil der Störung. Das muss erkannt und therapiert werden.
Wenn Patient:innen sagen: Ich weiß, was ich ursprünglich gesagt habe, aber ich halte mich jetzt nicht daran, das ist mir zu anstrengend, geht es nicht darum, an ihnen zu zerren, sondern zu sagen: Es ist okay. Sie können das jederzeit neu überlegen, aber jetzt ist es okay.
Erstmals wird in der Leitlinie dazu auch die Behandlerseite betrachtet. Auch diese können einen Anteil daran haben, wie sich Patient:innen entscheiden.
Die Analyse all dieser Faktoren und gegebenenfalls Neuausrichtung der Ziele und des Vorgehens führt idealerweise nach einem längeren Prozess dazu, dass das Ziel erreicht wird. Oder man muss anerkennen, dass man als Behandler:in nicht weiterkommt. Aber damit endet das Ganze nicht, die Tür bleibt offen.
Hypothese: Patient:innen kooperieren immer! Auch wenn sie sich nicht an den Therapieplan halten. Die häufigste Reaktion des Behandelnden ist Unmut, Frust. Der Referent schlägt eine alternative Interpretation vor. Die Überlegung ist: Der Patient zeigt durch sein Verhalten aktiv seine Kooperation. Die Ziele, die wir vereinbart hatten, waren nicht tragfähig, sie haben für ihn persönlich nicht gepasst. Das gibt die Möglichkeit, den Patienten nicht abzuwerten, sondern zu sagen: Lassen Sie uns das noch einmal gemeinsam durchgehen. Welche Ziele können wir neu festlegen?
Eine Rollenklärung ist entscheidend: wer trägt in dieser Interaktion die Verantwortung wofür?
Nur wenn ich als Ärztin oder Arzt denke, dass Patient:innen meinen Zielen folgen sollen, kann ich ihr abweichendes Verhalten als Scheitern erleben. Ist eine informierte und selbstverantwortete Patientenscheidung erfolgt, haben Ärzt:innen ihr Ziel erreicht, egal wie Patient:innen sich entscheiden. Eine selbstverantwortete Patientenentscheidung kann manchmal ein Scheitern für Patient:innen darstellen, aber niemals für den Behandelnden.
Quelle: Diabetes Herbsttagung 2021, Symposium "Umgang mit dem Scheitern: der Patient entscheidet sich anders"