Vor kurzem hatten der NAV-Virchow-Bund – der Verband der niedergelassenen Ärzte Deutschlands und die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) viel Medienaufmerksamkeit mit einer Pressemeldung zur vermeintlichen Zunahme von Gewalt gegen Ärzte erhalten. Leider hatten sie eine deutlich zu hohe Zahl von Fällen kommuniziert, wie Die Zeit schlüssig nachwies. Die Zahl von 288 Übergriffen auf Ärzte pro Tag mussten NAV und KBV anschließend auf "mindestens 75 Fälle" reduzieren. Die wenigsten Medien folgten der Korrektur.
Fest steht: Körperliche Gewalt, Drohungen und verbale Entgleisungen kommen in Praxen und Krankenhäusern regelmäßig vor – gegenüber weiblichen und männlichen Ärzten gleichermaßen. Dr. Dirk Heinrich, Bundesvorsitzender des NAV-Virchow-Bunds, hält die "allgemeine Verrohung und ein immer höheres Anspruchsdenken" für die Hauptursachen.
Er nennt einige Beispiele aus dem Praxisalltag: "Meistens entzünden sich die Angriffe daran, dass Patienten nicht das bekommen, was sie wollen. In vielen Fällen spielt auch eine psychische Vorerkrankung der Täter eine Rolle." Die Wartezeit sowie nicht – wie vom Patienten gewünscht – ausgestellte Rezepte und Krankschreibungen seien ein Grund für gewaltsame Zwischenfälle. Heinrich gibt Politik und Krankenkassen eine Mitschuld an dem aktuellen Zustand. Sie würden stets den Eindruck vermitteln, "Patienten stünde alles, jederzeit und unbegrenzt zur Verfügung".
Der Verband der niedergelassene Ärzte und KBV fordern wie der Deutsche Ärztetag, dass die ambulant und stationär tätigen Ärztinnen und Ärzte in den neuen Straftatbestand "Tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte (§ 114 StGB)" aufgenommen werden. Mit Änderung des Gesetzes Ende April haben tätliche Angriffe auf Polizisten, Feuerwehrleute und Rettungsdienstmitarbeiter ein höheres Strafmaß erhalten. Gegen diese Berufsgruppen nehmen Angriffe deutlich zu. Die Gesetzesänderung lässt Ärzte und medizinisches Personal bislang außen vor.
Doch wie können sich Ärzte und Krankenhäuser selbst schützen? Sicherheitsdienste sind im Bereich der Notaufnahmen in großstädtischen Kliniken längst ein bekanntes Bild. "Angriffe – egal ob körperlich oder verbal – sollten konsequent angezeigt werden", meint Heinrich. Er rät zu Deeskalationstrainings für das gesamte Praxisteam. "Derzeit treffen Ärzte allerdings zu wenig Vorsorge gegen Übergriffe; Dreiviertel aller Befragten sogar gar keine." Am häufigsten seien noch Fortbildungen zum Konfliktmanagement. Maßnahmen wie Alarmklingeln oder Notfalltaster, besondere bauliche Maßnahmen wie Fluchtwege und Überwachungskameras oder ein restriktiver Praxiszugang über Sprechanlagen würden nur selten genutzt.
Ähnliche Vorbeugemaßnahmen schlägt die Deutsche Krankenhausgesellschaft vor, die über eine Zunahme von Gewalt in Kliniken gegenüber Ärzten und Pflegepersonal klagt, aber darauf hinweist, dass es keine belastbaren Statistiken gibt. Angriffen würden häufig nicht gemeldet, weil sie sich im "Bagatellbereich" bewegten, erklärt die Gesellschaft. "Der deeskalierende Umgang mit Angriffen gehört zum Berufsalltag von Pflege und Medizin. Die Sanktionsmöglichkeiten von Einrichtungen gegen gewaltwendende Patienten sind allerdings überschaubar. Renitente Patienten und Besucher können ein Hausverbot erhalten, das gegebenenfalls mit Unterstützung der Polizei durchgesetzt wird", so ein Sprecher.
Die Deutsche Krankenhausgesellschaft hält es für wichtig, dass die angehenden Mitarbeiter in Medizin und Pflege bereits im Rahmen ihrer Ausbildung auf das Thema Gewalt in der Pflege und Maßnahmen des Selbstschutzes vorbereitet werden. Der Marburger Bund hatte 2016 beschlossen, dass das Thema Deeskalationstraining bereits im Studium beginnend, während der Weiterbildung und weiterhin im Klinikalltag thematisiert werde.
Eine Umfrage von esanum unter mehr als 130 Medizinern kam 2016 zu dem Ergebnis, Ärzte würden Patienten als zunehmend aggressiver wahrnehmen – in Praxen, aber auch im Internet.