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Dazugehören! Bessere Teilhabe!

Kongresspräsident Prof. Jörg Fegert, Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie im Interview zu den Highlights vom diesjährigen DGKJP-Kongress.

Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie veranstaltet ihren diesjährigen Kongress vom 22. bis 25. März in Ulm. Kongresspräsident Prof. Jörg Fegert, Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie erklärt im Interview, worum es im Wesentlichen geht.

esanum: Das Motto des DGKJP-Kongresses heißt: Dazugehören! – Bessere Teilhabe für traumatisierte und psychisch belastete Kinder und Jugendliche. Was war der Grund, diesen hohen Anspruch in den Mittelpunkt zu stellen?

Fegert: Die Kinder unserer Klinikschule, der Hans-Lebrecht-Schule, die gerade noch kurz vor dem Kongress ihren Neubau auf dem Klinikgelände beziehen konnte, haben in einem Schulprojekt den für alle verständlichen Begriff gewählt: "Dazugehören". Jedes Kind wünscht sich die Zugehörigkeit zu einem Freundeskreis, zur Klassengemeinschaft, zu Gruppen, die gleiche Interessen z.B. im Sport oder in der Musik teilen. Wir haben die Kinder, die in der Schule während des Krankenhausaufenthalts unterrichtet werden, gefragt, wo sie zum Zeitpunkt der Aufnahme noch dazugehören und wo sie nach einer erfolgreichen Behandlung in der Zukunft dazugehören wollen. Daraus ist eine Ausstellung mit Bildern von Kindern und Jugendlichen entstanden, die von Ausgrenzung, Rückzug und Isolation ebenso zeugt, wie von der Bedeutung der Familie und vor allem der Freundeskreise und gleichaltrigen Gruppen. Die Ausstellung ist, ergänzt um Bilder junger Menschen, die nach Deutschland geflohen sind, während des Kongresses im Congress Center Ulm zu sehen.

esanum: Was werden die Kongress-Highlights sein? Welche Vorträge bieten zum Beispiel Innovationen und neue Erkenntnisse?

Fegert: Wir können viele namhafte Keynote-Redner begrüßen. Prof. Martin Teichert von der Harvard Universität, einer der führenden Forscher zu Folgen der Traumatisierung, Prof. Dan Olweus der weltbekannte Mobbingforscher und Dr. Dennis Ougrin vom King's College London seien hier nur exemplarisch genannt. Der aktuelle Stand der wissenschaftlichen Debatte wird in zahlreichen State-of-the-Art Vorträgen dargestellt. Dazu finden die neuesten Entwicklungen in aktuell erschienenen Leitlinien ihre Beachtung, ebenso wie zahlreiche wissenschaftliche und klinische Vorträge. In den erstmals angebotenen Praxisseminaren soll die klinisch-praktische Anwendbarkeit der vorgestellten Themen beleuchtet werden. Wir freuen uns, dass mit Ministerin Dr. Eisenman und Minister Lucha zwei Vertreter der Landesregierung unseren Kongress besuchen werden. 

Neu ist auch, dass es uns gelungen ist, die Baden-Württemberg Stiftung als Mitveranstalter für den Kongress zu Gewinnen. Die Stiftung fördert viele Projekte im Bereich Bildung und Teilhabe, die beim Kongress vorgestellt werden. Auch freue ich mich, dass der letzte Kongresstag gemeinsam mit UNICEF das Thema "Dazugehören" für Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrung in den Mittelpunkt stellt. Als wissenschaftliche Fachgesellschaft sind wir froh darüber, dass auch die großen Forschungsförderer, wie z.B. das BMBF und die DFG unseren Kongress unterstützen.

esanum: Unsere Welt wird komplexer und in vielen Teilen auch bedrohlicher – wie wirkt sich das auf die psychische Gesundheit der jüngste und Jungen aus?

Fegert: Sicher, die Welt wird komplexer. Aber für die meisten Kinder und Jugendlichen ist die Komplexität Normalität. Sie benutzen schon früh ein Smartphone mit einer Selbstverständlichkeit, die uns Erwachsene oft überfordert. Eine Pro Con Debatte zur Internetnutzung mit Prof. Spitzer (Ulm) und Herrn D. Hochgatterer (Österreich) wird für die Kongressteilnehmer diese wichtige Thematik aufgreifen. Die Wahrnehmung von Normalität und die Zeitperspektive von Kindern und Jugendlichen ist altersbedingt unterschiedlich. Denken Sie z.B. an die Europäische Union – für uns ist diese erst seit kurzem in einer Krise. Für einen 16-Jährigen schon mehr als sein halbes Leben. Eltern müssen natürlich hellhörig werden, wenn die Kinder sich auffallend große Sorgen machen und diese das Kind nicht mehr loslassen. Das ist ein Anlass, sich Hilfe zu holen. Das Problem: Oft wird zu lange weggeschaut. Kindergärtnerinnen und Lehrern kommt in diesen Fällen eine zentrale Bedeutung zu, sie sehen die Kinder nicht durch die Brille der Eltern, sondern im Vergleich mit anderen. Häufig sieht man in der Gleichaltrigen-Gruppe, ob einer dazugehört, ob er sich abkapselt, ob er ausgeschlossen oder gemobbt wird.

Und so viel wirklich Grundlegendes hat sich gar nicht geändert: Ein kleines Kind braucht nach wie vor Förderung, Schutz, Essen und möglichst einen geordneten Tagesrhythmus. Und das Wichtigste: Es braucht Liebe und es braucht Menschen, die es mögen. Und die zweite Phase: Das Kind muss die Welt erkunden dürfen. Kinder gehen raus, um sich auszuprobieren, und sie kommen wieder heim, um aufzutanken. Eltern können viel dafür tun, dass Kinder sich ausprobieren und sie in reale Gruppen bringen. Und dazu gehört auch, die Sorgen der Kinder ernst zu nehmen.

esanum: Stichwort: Flüchtlingskinder. Wie viele von ihnen, die bei uns in den letzten Monaten angekommen sind, brauchen psychologische und psychiatrische Hilfe?

Fegert: Viele dieser Kinder und Jugendlichen haben Schreckliches erlebt. Sie mussten z.B. zusehen, wie vor ihren Augen Angehörige getötet wurden. Mädchen und Jungen, die auf der Flucht waren, wurden sexuell missbraucht. Und: Die unklare Perspektive hier trägt auch nicht zu einer Stabilisierung bei. Wir können aber nicht pauschal sagen, dass alle Kinder und Jugendliche, die zum Teil massiven traumatischen Erfahrungen auf der Flucht ausgesetzt waren, auch wirklich psychologische oder psychiatrische Hilfe brauchen. Je nach Kontext sind zum Beispiel ca. 1/3 der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge dringend behandlungsbedürftig. Viele Kinder und Jugendliche sind aber auch erstaunlich resilient.

esanum: Was brauchen diese Kinder am dringendsten?

Fegert: Sie sollen ankommen und hier einen sicheren Ort finden um wieder Normalität zu erleben – also in die Schule zu gehen, Freunde zu treffen. Und, wenn nötig, brauchen sie umfassende psychotherapeutische und psychiatrische Betreuung.

esanum: Sind unsere Ärzte und anderen Experten darauf eingerichtet? Können sie das Notwendige leisten?

Fegert: Problematisch ist die Verständigung. Wir haben leider oft nicht die passenden Dolmetscher zur Verfügung. Das beschäftigt uns immer wieder stark. Die Hausordnung und andere Materialien stehen jetzt schon in vielen Sprachen zur Verfügung. Mittlerweile arbeiten wir mit einem selbstentwickelten webbasierten Programm, mit dem wir Jugendliche in mehr 20 verschiedenen Sprachen nach ihren Belastungen fragen können. Wir engagieren uns hier auch stark in der Aus-, Fort- und Weiterbildung. Mit Förderung durch das BMBF entwickeln wir ein e–learning Programm für Profis und ehrenamtlich Tätige zu den zentralen Themen Traumatisierung und Möglichkeiten der Traumatherapie, psychiatrische Notfälle bei geflüchteten Jugendlichen und Schutzkonzepte in Einrichtungen für geflüchtete Familien oder unbegleitete geflüchtete Jugendliche. Nur durch das Engagement vieler Ehrenamtlicher kann derzeit eine psychosoziale Versorgung der Betroffenen halbwegs gelingen. Deshalb setze ich als Kongresspräsident mit meiner Einladung zum UNICEF Tag hier ein klares Zeichen für Vernetzung und Zusammenarbeit.

esanum: Laufen die bekannten Diagnostiken und Therapien wie bei ADHS oder Depression etc. jetzt parallel zur Versorgung der Flüchtlingskinder? Oder lassen sich da gemeinsame Strukturen und vielleicht sogar Synergieeffekte nutzen – weil Kinder in der ganzen Welt auch ähnlich sind und ähnliche Symptome zeigen können?

Fegert: Die Diagnosen und Symptome sind schon ähnlich. Dennoch brauchen wir auch kulturspezifisches Hintergrundwissen. Zur adäquaten Notfallbehandlung und Gefährdungsabschätzung sollte man auch einige Informationen z.B. zur Bedeutung und Bewertung von Suizidalität im Islam haben. Synergien sehe ich hier derzeit noch nicht, eher einen gesteigerten komplexen Behandlungs- und Beratungsbedarf. Die Psychiatrieplanung in den Bundesländern geht mehrheitlich noch von sinkenden Kinderzahlen aus. Das ist schon ohne die zahlreichen dazugekommen geflüchteten jungen Menschen durch den allgemeinen Geburtenanstieg nicht mehr realistisch. Wir werden in den nächsten Jahren unsere Strukturen und Angebote ausbauen und den neuen Anforderungen anpassen müssen. Doch gute kinder- und jugendpsychiatrische und psychotherapeutische Arbeit ist und bleibt immer Beziehungsarbeit. Deshalb sind wir froh, dass das Bundesgesundheitsministerium hier umgedacht hat und das Parlament ein Gesetz verabschiedet hat, welches auch für die Zukunft personelle Standards normativ garantieren will. Für alle Fachverbände war es ein großer Erfolg der gemeinsamen politischen Arbeit, dass wir hier Gehör gefunden haben. Damit unsere Patienten ohne wesentliche Einschränkungen "dazugehören" können, werden wir weiterhin fachpolitisch aktiv und wachsam sein müssen. Dabei gilt es, den hohen Versorgungsstandard in Deutschland zu sichern, indem wir zunehmend junge Kolleginnen und Kollegen für das Fachgebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie gewinnen. Beim Kongress haben wir z.B. über die Fachschaften bundesweit Studierende der Medizin eingeladen, sich für eine kostenfreie Teilnahme am Kongress zu bewerben und freuen uns darüber dass über 100 Studierende auf diese Weise am Kongress teilnehmen werden.

esanum: Was erwarten und erhoffen Sie sich von dem Kongress? Welche Wirkung soll er in der Gesellschaft entfalten?

Fegert: In Ulm durfte ich in vielfältiger Weise erleben, dass Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie in der Mitte der Gesellschaft "dazugehören" kann. Gerade die Debatte über Inklusion von Kindern mit seelischen Belastungen macht schulbezogene Interventionen und die Rehabilitation im schulischen Bereich stärker denn je zu einer zentralen Frage, ob es gelingt, dass Kinder und Jugendliche mit psychischen Problemen "dazugehören" können. Wenn unser Kongress dazu einen Beitrag leistet, dann haben wir viel erreicht.