Der deutsche Gesundheitsmarkt ist ein gigantischer Markt. Die Gesundheitsausgaben beliefen sich dem Bundesministerium für Gesundheit zufolge im Jahr 2013 auf rund 315 Milliarden Euro – das entspricht 3.910 Euro je Einwohner. Gerade die zunehmende Ökonomisierung der Medizin sei ein Problem, kritisiert die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie (DGCH) im Vorfeld des 133. Kongresses der Gesellschaft, der vom 26. bis 29. April 2016 im CityCube in Berlin stattfindet. Es werden 5.500 Chirurgen erwartet.
Die Ökonomisierung würde zunehmend das Arzt-Patienten-Verhältnis beschädigen. Wenn Krankenhausstrukturen vor allem darauf ausgelegt sind, größtmögliche Erlöse zu erzielen, führe das häufig zu einem Vertrauens- und Informationsverlust. “Wir brauchen wieder mehr Zeit für das Gespräch mit den Patienten”, fordert daher Professorin Gabriele Schackert, Präsidentin der DGCH. Der Kongress steht unter dem Motto “Chirurgie im Spannungsfeld von Technik, Ethik und Ökonomie”. Seit Einführung der Klinikvergütung DRG vor mehr als einem Jahrzehnt arbeiten die Krankenhäuser aus Sicht der Chirurgen immer intensiver daran, wirtschaftlich passgenaue Patientenfälle zu versorgen. “Es gilt, den maximalen Erlös zu erzielen – je mehr und je schwieriger die Fälle bei mittlerer Verweildauer sind, desto besser”, berichtet Schackert. Die Zeit, die man mit den Patienten verbringt, schlägt sich hingegen nicht in der Vergütung nieder.
Zuwendung wird damit zur entbehrlichen Ressource. “Zeitmangel ist in der heutigen Medizin das zentrale Problem”, sagt Schackert. Mit teilweise gravierenden Folgen: So sei Zeitknappheit eine der Ursachen, weshalb in verschiedenen Fachgebieten die Operationszahlen ansteigen. “Viele Eingriffe würden entfallen, wenn wir die Zeit hätten, im Gespräch den Willen des Patienten kennenzulernen und die richtige, individuelle Indikation zu stellen”, meint die Neurochirurgin. “Dieser Zeitaufwand ist genauso wichtig wie die Operation mit gutem Behandlungsergebnis und muss in der Vergütung berücksichtigt werden.”
Zeitmangel und ökonomischer Druck können darüber hinaus zu einem Verlust an Vertrauen und Information führen. Weil viele Kliniken ums Überleben kämpfen, reduzieren die Einrichtungen die stationäre Verweildauer auf ein Minimum und sparen am Personal. “Es ist bereits üblich, Patienten am Tag des Eingriffs direkt nüchtern in den OP-Saal kommen zu lassen”, berichtet Schackert. “Das setzt nicht nur eine hervorragende Organisation bei der Vorbereitung voraus, sondern sorgt häufig auch für zusätzlichen Stress bei den Patienten”, betont die Medizinerin. Die Aufnahme auf die Station erfolgt dann erst nach dem Eingriff.
Auch ständig wechselnde Ärzte verunsichern die Patienten – nicht zuletzt Folge des Arbeitszeitgesetzes, das die Dauer der Schichten begrenzt und eine regelmäßige Rotation erfordert. “Bei allem Verantwortungsbewusstsein kann es bei den Übergaben zu Informationslücken kommen, die das Behandlungsergebnis gefährden”, warnt Schackert. Ein weiteres Indiz für das sich ändernde Arzt-Patienten-Verhältnis sieht Schackert in der steigenden Zahl an Patientenverfügungen. “Es sollte uns stutzig machen, dass mehr und mehr Patienten versuchen, Therapien zu begrenzen.” Es sei Zeit, sich auf das eigentliche Arzt-Patienten-Verhältnis zu besinnen, auf Empathie und Verantwortung. “Eine Medizin am Fließband, die jährlich eine Leistungssteigerung verlangt, kann nicht das Ziel sein und verliert den Patienten aus dem Blickfeld”, betont Schackert.
Text: DGCH / vt
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