Es geht um vermeintlich verpfuschte Operationen, Krankenhauskeime oder vom Hausarzt nicht erkannte Krebserkrankungen: In der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen in Hannover kommen ständig Kartons mit Patientenakten an. An die bundesweit größte Einrichtung ihrer Art können sich Patienten aus zehn Bundesländern wenden, die einen Behandlungsfehler vermuten und zunächst eine außergerichtliche Einigung mit dem beschuldigten Mediziner oder Krankenhaus anstreben. Im vergangenen Jahr wurden 4265 Anträge gestellt, drei Viertel davon bezogen sich auf Kliniken.
Unfallchirurgen und Orthopäden waren am häufigsten mit Vorwürfen konfrontiert. “Wenn sich nach einer Operation die Schulter noch genauso schlecht bewegen lässt wie vorher, ist das offensichtlicher als bei falscher medikamentöser Behandlung”, sagt die Geschäftsführerin der Schlichtungsstelle, Kerstin Kols. “Einige Patienten vergessen jedoch, dass sie von einer Operation keine Wunder erwarten dürfen.”
Nicht jede Komplikation sei ein Behandlungsfehler, betont die Juristin. Andererseits gebe es auch Ärzte, die das eigene Handeln nicht ausreichend überdenken und so zu spät auf Komplikationen reagieren. Als begründet anerkannt wurden 2014 rund ein Viertel der Anträge.
Experten gehen bundesweit von 40 000 bis 170 000 Behandlungsfehlern im Jahr aus. Patientenschützer beklagen, dass es hierfür kein zentrales Register gibt. Für Menschen, die sich als Opfer von Ärztepfusch sehen, gibt es verschiedene Vorgehensmöglichkeiten.
“Es ist sinnvoll, zuerst die eigene Krankenkasse einzuschalten”, rät Andrea Fabris von der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland. Die Versicherungen beauftragen in Verdachtsfällen den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK), ein kostenloses Gutachten zu erstellen. Bundesweit wurden im vergangenen Jahr 14 663 solcher Vorwürfe von MDK-Gutachtern geprüft. Auch hier wurde in jedem vierten Fall ein Fehler festgestellt.
Martin Dutschek vom MDK in Niedersachsen sagt: “Wir bekommen nur die Spitze des Eisbergs mit.” Notwendig sei eine nationale Strategie für die Patientensicherheit. “Fehlermeldesysteme funktionieren nur, wenn es auch eine Sicherheitskultur gibt.” Die Luftfahrt könne dabei ein Vorbild für die Krankenhäuser sein, ist Dutschek überzeugt. In einem Modellprojekt am Nordstadt-Krankenhaus in Hannover wurden deshalb die Checklisten von Piloten auf Operationssäle übertragen.
Der Unfallchirurg Hans-Jörg Oestern ist seit seinem Ruhestand als Gutachter für die Schlichtungsstelle der norddeutschen Ärztekammern im Einsatz. “In den Kliniken hat sich sehr viel geändert. Qualität und Ökonomie stehen heute an erster Stelle”, beobachtet der frühere Chefarzt im Allgemeinen Krankenhaus in Celle.
Oestern ist einer von 65 ehrenamtlich tätigen ärztlichen Mitgliedern der Schlichtungsstelle. Mindestens einmal im Monat trifft er sich mit den Kollegen – viele frühere Chefärzte – und bespricht die aktuellen Fälle. Dabei werden im Konferenzraum häufig gemeinsam die wichtigsten Computer- und Kernspintomogramme aus den Patientenakten begutachtet. Die Gutachten der Schlichtungsstelle sind für die Patienten kostenlos.
Meist akzeptieren beide Parteien den Schlichterspruch. In etwa jedem zehnten Fall strengt der Geschädigte dennoch ein Gerichtsverfahren an, etwa um ein höheres Schmerzensgeld von der Haftpflichtversicherung des Arztes zu erstreiten.
Zivilverfahren gegen Mediziner können sich hinziehen. Die Fachanwältin für Medizinrecht, Annette Corinth, hatte schon einen Fall, bei dem es acht Jahre bis zu einer Entscheidung dauerte. “Das war zwar eine Ausnahme, aber für die Opfer von Behandlungsfehlern ist auch ein kürzeres Verfahren psychisch sehr belastend”, sagt die Juristin. Häufig seien die von den Gerichten in Auftrag gegebenen Gutachten zunächst zu schwammig und müssten ergänzt werden.
Patientenberaterin Andrea Fabris meint: “Weil der Weg bis zu einer Entschädigung so steinig ist, sehen viele geschädigte Patienten davon ab. Die Anerkennung eines Behandlungsfehlers muss leichter werden.”
Text: dpa /fw