Chemiker, Kunstsammler und Schriftsteller: Er war ein Mann der drei Welten. Berühmt machte ihn jedoch vor allem die Erfindung der Anti-Baby-Pille.
Er ebnete den Weg für die feministische Bewegung: Als Miterfinder der Anti-Baby-Pille ist der Chemiker Carl Djerassi weltberühmt geworden. Aber der gebürtige Wiener, der in der Nacht zum Samstag 91-jährig im kalifornischen San Francisco an Krebs gestorben ist, war mehr als ein Top-Forscher. Er nannte sich selbst “intellektuell polygam”. Djerassi war ein Mann der drei Welten, machte sich auch als Kunstmäzen und Dramaturg einen Namen. Seine Theaterstücke werden in aller Welt aufgeführt. Seit dem Suizid seiner Tochter Pamela, einer Malerin, unterstützt er zudem junge Künstler.
Djerassi selbst sah sich in den vergangenen Jahren auf seinem Weg zwischen Natur- und Geisteswissenschaften vor allem als Autor – auch wenn er mit dem Titel seiner Autobiografie “Mutter der Pille” eine Bezeichnung für sich selbst geprägt hatte, die ihm dauerhaft anhaftete. “Das irritiert mich oft: Ununterbrochen werde ich nur zur Pille befragt”, sagt er im Mai 2014 der österreichischen Zeitung Die Presse. Er sei gerade mal 28 Jahre alt gewesen, als er das Verhütungsmittel mit Kollegen in Mexiko erfunden habe. Jetzt sehe es so aus, als habe er seit damals nichts mehr getan. “Seit 25 Jahren habe ich mein Leben total verändert. Es gibt nicht viele Chemiker, die später auch Schriftsteller werden.”
“Carl Djerassi war in erster Linie ein großartiger Wissenschaftler”, so der Präsident der Universität Stanford, John Hennessy, in einem Nachruf. “In seinem späteren Leben war er eine große Stütze für Künstler und wurde selbst zum Bühnenautor, dessen Stücke unterhaltsam aber auch lehrreich waren.”
Dennoch: Vor allem für Frauen gilt Djerassi hauptsächlich als der Mann, der zu ihrer Befreiung beitrug. Die Journalistin und Frauenrechtlerin Alice Schwarzer fasste es einmal in einem Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur wohl stellvertretend für viele zusammen: “Djerassi verdient ein Denkmal. Die Pille ist ein Meilenstein in der Geschichte der Emanzipation der Frauen. (…) Auch ich habe die Pille als eine ungeheure Befreiung empfunden.”
Dabei mochte Djerassi den Begriff “Anti-Baby-Pille” überhaupt nicht, ja, lehnte ihn ab. Denn das Hormonpräparat richte sich nicht gegen Kinder, es sei vielmehr ein Mittel “für die Frauen”, betonte er. Bis zuletzt war er über die enorme Bedeutung der Erfindung erstaunt: “Niemand hatte damals geglaubt, dass Frauen das Mittel einmal so stark benutzen würden.”
Die jungen Jahre Djerassis waren von der Nazi-Herrschaft geprägt. Als Sohn eines jüdischen Arztehepaars 1923 in Wien geboren, floh er 1938 nach Bulgarien, die Heimat seines Vaters. Die Mutter nahm ihn dann mit in die USA. Doch die 20 Dollar, die sie bei sich trug, reichten nicht lange. Djerassi schrieb an Eleanor Roosevelt, damals Amerikas First Lady, und bat um Vermittlung eines Stipendiums. Er hatte Glück und konnte studieren – allerdings nur Chemie. Eine Ausbildung zum Arzt war für ihn unerschwinglich.
Im Laufe seiner Forscherkarriere veröffentlichte Djerassi etwa 1200 wissenschaftliche Arbeiten, etwa zur Synthese des Hormons Cortison. Auch diese Errungenschaft sichert ihm einen prominenten Platz in der medizinischen Forschungsgeschichte: Cortison wurde weltweit zu einem Mittel bei der Bekämpfung vieler Krankheiten. Der große Durchbruch bei der Empfängnisverhütung kam 1951: Djerassi gelang zusammen mit zwei Kollegen die künstliche Herstellung des Schwangerschaftshormons Gestagen. Daraus ging einige Jahre später die Anti-Baby-Pille hervor.
Auf die Frage, ob das Hormonpräparat Ursache des Geburtenrückgangs sei, sagte Djerassi einmal im dpa-Interview: “Das ist Unsinn. Paare beschränken sich aus gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Gründen auf weniger Kinder.”
Seine dritte Ehefrau, die Stanford-Professorin und Biografin Diane Middlebrook, inspirierte Djerassi zum Schreiben. Zunächst entstanden Gedichte und Kurzgeschichten. Doch bald schon fühlte sich der Forscher berufen, seine Leser in die Welt der Wissenschaft einzuführen. Er schuf ein neues Roman-Genre, nannte sie “Science-in-Fiction“, weil die wissenschaftlichen Inhalte im Gegensatz zur “Science-Fiction” nicht frei erfunden seien. Die Romane wurden Bestseller, seine Dramen werden auf Bühnen in aller Welt aufgeführt, darunter auch in etlichen großen europäischen Theatern.
Diane Middlebrook erlag 2007 einer Krebserkrankung. Lange vor ihr verlor Djerassi seine Tochter Pamela. Ihr Selbstmord veranlasste Djerassi, seine Farm in Kalifornien zur Künstlerkolonie umzubauen. Junge Maler, Bildhauer, Schriftsteller und Fotografen sind eingeladen, ein Jahr kostenlos dort zu leben und zu arbeiten.
Mit seinem Heimatland söhnte sich der unter anderem mit 39 Ehrendoktortiteln gewürdigte US-Forscher in späten Jahren aus. Er akzeptierte einen österreichischen Pass und besaß damit eine doppelte Staatsbürgerschaft. Zuletzt lebte er in Wien, San Francisco und London. In dortigen Museen ist auch ein Teil der Werke von Paul Klee ausgestellt, die Djerassi mit Hilfe seiner Tantiemen zusammentrug.
“Es war gerne ein Provokateur, der Fragen stellte, die sich andere nicht zu fragen trauten”, würdigte der Chemie-Professor Paul Wender seinen Stanford-Kollegen. Damit sei er manchmal auch angeeckt. “Aber es gab die andere wunderbare Seite von Carl, die viele Leute nicht hoch genug schätzten, und das war seine unglaubliche Großzügigkeit.”
Text und Foto: dpa/ fw