Ein Schlaganfall ist der häufigste Grund für Behinderungen im Erwachsenenalter, da Hirnregionen durch den Verschluss von Blutgefäßen dauerhaft zerstört werden. Nun haben Studien gezeigt, dass bei manchen Patienten Hirngewebe gerettet werden kann – und das bis zu 24 Stunden nach dem Infarkt. Prof. Dr. Ulf Ziemann, Ärztlicher Direktor am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung, behandelt Patienten bereits nach der neuen Methode.
Rund 270.000 Menschen erleiden pro Jahr in Deutschland einen Schlaganfall, die Tendenz ist aufgrund der demografischen Entwicklung steigend. Trotz verbesserter Therapien liegt die Erkrankung auf Platz drei der häufigsten Todesursachen und ist der häufigste Grund für Behinderungen im Erwachsenenalter. "Zurzeit sind mehr als 60 Prozent der Betroffenen dauerhaft auf Pflege, Therapie oder Hilfsmittel angewiesen“, sagt Prof. Dr. Ulf Ziemann. Der 54-Jährige ist Ärztlicher Direktor der Neurologie mit Schwerpunkt neurovaskuläre Erkrankungen und Neuroonkologie am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung in Tübingen. Den Medizinern gelingt es nun, bei manchen Patienten auch bis zu 24 Stunden nach dem Schlaganfall Hirngewebe zu retten. Bisher war dies nur etwa sechs Stunden nach dem Hirninfarkt möglich.
Die meisten Schlaganfälle werden durch ein Blutgerinnsel in einer Hirnarterie ausgelöst, das bei einem Teil der Patienten durch eine Infusion mit einem Enzym aufgelöst werden kann. Je früher diese sogenannte Lysetherapie einsetzt, desto besser sind die Ergebnisse für die Patienten. "Time is brain", sagt Prof. Ziemann. Ein Motto, das auch für die Thrombektomie gilt, ein Verfahren, bei dem Blutgerinnsel mit Hilfe eines Mikrokatheters mechanisch entfernt werden.
"Neue Studien eröffnen nun ein fundamental neues Konzept", erklärt Prof. Ziemann. Wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt seien, könne man den Patienten auch bis zu 24 Stunden nach dem Infarkt noch mit der mechanischen Methode vor einem bleibenden Defizit bewahren. Dafür muss mithilfe von bildgebenden Verfahren wie CT oder MRT nachgewiesen werden, dass neben dem durch den Infarkt zerstörten Areal noch Hirngewebe vorhanden ist, das zwar schlecht durchblutet und funktionsgestört ist, aber noch vital. "Ist das Hirngewebe minderdurchblutet, besteht die Gefahr, dass es endgültig abstirbt, wenn man nichts unternimmt", so Prof. Ziemann. Daher schaue man jetzt sehr viel stärker auf den Zustand dieses Gewebes, das mit der Thrombektomie je nach Patient auch 24 Stunden nach dem Infarkt noch zu retten sei. "Das ist eine wichtige, neue Perspektive, die über den weiterhin bestehenden Grundsatz 'Time is brain' hinaus ermöglicht, Patienten erfolgreich zu behandeln."
Prof. Ziemann und sein Team haben aufgrund der neuen Studienergebnisse ihr Konzept umgestellt und prüfen jetzt bei jedem Patienten, der maximal 24 Stunden nach einem Schlaganfall eingeliefert wird, ob eine Thrombektomie angewendet werden sollte. "Das gilt zurzeit zwar nur bei rund fünf Prozent der Schlaganfallpatienten, aber bei diesen haben unsere Neuroradiologen die späte Thrombektomie schon mit sehr gutem Erfolg durchgeführt und dadurch den Zustand der Betroffenen erheblich verbessert." Weil dieses Verfahren nur maximalversorgende Kliniken wie Universitätskliniken oder andere große Häuser durchführen können, haben sich neurovaskuläre Netzwerke formiert, in denen große Kliniken Kooperationsverträge mit sogenannten Zuweiserkliniken schließen. So wird deutschlandweit gewährlistet, dass Schlaganfallpatienten auf dem schnellsten Weg zur Akutversorgung in das nächst liegende Krankenhaus gebracht werden. Wird dort die Lysetherapie aufgrund des abgelaufenen Zeitfensters nicht mehr angewendet, wird der Erkrankte in eine Klinik verlegt, in der die Thrombektomie durchgeführt werden kann. Damit hat Deutschland laut Deutscher Schlaganfall-Gesellschaft ein international führendes Versorgungsnetz.