Oft führen vermeidbare Fehler in der präklinischen Forschung dazu, dass Studien an Patientinnen und Patienten durchgeführt werden, die hohe Risiken und geringe Erfolgsaussichten aufweisen. Professor Ulrich Dirnagl und Professor Daniel Strech vom Berliner Institut für Gesundheitsforschung (BIH) und der Charité – Universitätsmedizin Berlin appellieren gemeinsam mit einem internationalen Autorenteam an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, sich in höherem Maße mit ihrer ethischen Verantwortung für Patientinnen und Patienten auseinanderzusetzen und für eine verbesserte Qualität in der präklinischen Forschung einzutreten.
Oft führen vermeidbare Fehler in der präklinischen Forschung dazu, dass Studien an Patientinnen und Patienten durchgeführt werden, die hohe Risiken und geringe Erfolgsaussichten aufweisen. Professor Ulrich Dirnagl und Professor Daniel Strech vom Berliner Institut für Gesundheitsforschung (BIH) und der Charité – Universitätsmedizin Berlin appellieren gemeinsam mit einem internationalen Autorenteam an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, sich in höherem Maße mit ihrer ethischen Verantwortung für Patientinnen und Patienten auseinanderzusetzen und für eine verbesserte Qualität in der präklinischen Forschung einzutreten.
Millionen von Menschen leiden an neurodegenerativen Erkrankungen wie etwa Alzheimer oder Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) und weltweit arbeiten Forscherinnen und Forscher an neuen Behandlungen. Dennoch sind viele dieser Krankheiten nicht heilbar und es gibt kaum wirksame Therapieansätze. Das liegt vor allem daran, dass Krankheiten des Nervensystems besonders komplex und erst in sehr begrenztem Umfang verstanden sind. Allerdings bestehen auch Mängel in der präklinischen Forschung, die vermeidbar wären, wie der Neurologe Ulrich Dirnagl und der Medizinethiker Daniel Strech vom BIH QUEST Center for Transforming Biomedical Research gemeinsam mit einem internationalen Autorenteam in einem aktuellen Essay zeigen.
"Bis eine klinische Studie zur Erprobung neuer Therapeutika zugelassen wird, haben zahlreiche Schritte stattgefunden – von der ersten Wirkstoffanalyse über Versuche an lebenden Organismen bis zur Publikation. Oftmals sind die Daten, die aus dieser präklinischen Kette hervorgehen, in der Summe jedoch nicht robust genug", sagt Ulrich Dirnagl, Gründungsdirektor des QUEST Centers. Das liegt beispielsweise daran, dass Fallzahlen zu klein sind, Resultate sich nicht reproduzieren lassen oder negative Ergebnisse unveröffentlicht bleiben. Etwa in der Literatur zu Schlaganfällen: Literaturanalysen zeigen, dass viele Ergebnisse von Experimenten nicht publiziert werden und dies zu einer Überbewertung der therapeutischen Effekte neuer Behandlungsmethoden von mindestens 30 Prozent führt.
In ihrer Arbeit beziehen sich die Autorinnen und Autoren auf neurodegenerative Erkrankungen, weil das Problem hier besonders akzentuiert zutage tritt – die Erfolgsaussichten früher Studien für neue Wirkstoffe oder biologische Präparate sind äußerst gering. Etwa bei ALS, einer schweren Erkrankung, die schnell fortschreitet und tödlich verläuft. "Der Patient wird hier Zeuge seines eigenen Verschwindens. Die Teilnahme an Phase I-Studien ist bei vielen mit der Hoffnung auf jede noch so kleine Verbesserung des Zustandes verknüpft. Dabei entstehen oft hohe Belastungen durch die Studienteilnahme, und die Erfolgsaussichten sind meist gering – zum Beispiel, wenn das Leben solcher Patienten um wenige Wochen verlängert wird, aber gleichzeitig die Lebensqualität sinkt. Da müssen wir besonders gut hinschauen, welchen Risiken und Belastungen durch die Studienteilnahme wir die Erkrankten aussetzen. Unsere Verantwortung ist hoch", sagt Ulrich Dirnagl.
Zwar existieren Richtlinien für eine gute Ausgestaltung präklinischer Studien wie die 2010 entwickelte ARRIVE-Richtlinie. Sie würden jedoch weitgehend ignoriert werden, kritisiert das Autorenteam. Andere gesetzlich verpflichtende Maßgaben wie die Richtlinie zur Planung von Schlaganfall-Studien der European Medicines Agency (EMA), entsprächen nicht den aktuellen Empfehlungen einschlägiger Expertinnen und Experten. Fragwürdige Kriterien fänden sich auch bei der wichtigsten Zulassungsbehörde der Welt, der Food and Drug Administration (FDA) in den Vereinigten Staaten: Wer dort eine Studie für erste Tests an Menschen anmeldet, muss präklinische Sicherheitsdaten nachweisen – aber nicht, ob die zu testenden Therapeutika sich in Vorstudien auch als wirksam erwiesen haben. "In der Summe sind die Probleme, mit denen präklinische Forschung behaftet ist, so gravierend, dass wir bezweifeln, ob frühe klinische Studien den geltenden ethischen Anforderungen wie zum Beispiel einer vorausgehenden, robusten Nutzen-Schaden Abwägung entsprechen", sagt Daniel Strech, der seit 1. Juni 2018 eine Professur für Translationale Bioethik am QUEST Center innehat. Das Zentrum hat sich zum Ziel gesetzt, die Werthaltigkeit und den Nutzen der biomedizinischen Forschung am BIH und darüber hinaus zu erhöhen. QUEST fördert und entwickelt unter anderem ein Qualitätsmanagement für Forschung, etwa indem den Forschenden elektronische Laborbücher zur Verfügung gestellt werden oder diese sich in vielfältigen Kursen beispielsweise zum Thema Reproduzierbarkeit weiterbilden können. Insbesondere setzt sich QUEST dafür ein, sämtliche und nicht nur ausgewählte Studienergebnisse in der medizinischen Forschung zu publizieren. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an Charité und MDC, die so genannte Null-Resultate veröffentlichten, werden durch das QUEST Center ausgezeichnet. Das sind Studien, in denen die untersuchte Hypothese nicht nachgewiesen werden konnte, die aber dennoch nützlich sein können, etwa um zukünftige Experimente zur selben Forschungsfrage besser zu gestalten.
"Wir Mediziner sollten uns der ethischen Implikationen bewusst sein, die mit unserer Forschung verbunden sind. Das heißt, nicht nur für das nächste Paper zu forschen. Wir müssen Translation ernst nehmen und sie als Kette begreifen, die dort reißt, wo ein Element am schwächsten ist. Dies tritt oft in der präklinischen Phase auf, wie wir in unserer Arbeit zeigen. Wir wollen das Bewusstsein für diese Mängel und deren Konsequenzen stärken – damit es künftig mehr Studien gibt, die höhere Erfolgsaussichten für am Patientenwohl orientierte Innovationen bieten und zugleich weniger Belastungen mit sich bringen", sagt Ulrich Dirnagl.
Quelle: BIH