Der Patient hat eine klaffende Wunde an der Stirn. Trotzdem hält es ihn kaum auf der Liege in der Notaufnahme. Er spricht wirres Zeug, spielt mit seinem Handy und versucht immer wieder, “zur Party zu gehen”, wie er sagt. Nur mit gutem Zureden können die “Ärzte” ihn überzeugen, die Nacht auf der Station zu verbringen. Sie haben damit ihren Test bestanden. Denn es geht nicht um einen wirklichen Ernstfall, sondern um eine Übung für Medizinstudenten an der Berliner Charité. “Team Dr. House” heißt die Gruppe in Anspielung auf die bekannte US-Fernsehserie.
Die Arbeit mit gestellten Situationen, die sogenannte Simulationsmedizin, wird in der Aus- und Fortbildung von Ärzten immer wichtiger. Universitäten und Krankenhäuser proben für Notaufnahme und schwere Fälle im OP zunehmend mit Simulanten, Dummys und Computerprogrammen. In der Charité etwa müssen sich Studenten mit Stresssituationen und widerspenstigen Patienten auseinandersetzen – wie bei dem “betrunkenen” Radfahrer mit der Stirnwunde.
Im Unfallkrankenhaus Berlin (UKB) können auch Mitarbeiter, die schon längere Erfahrung im Beruf haben, seit 2013 zusätzliche Trainingsangebote besuchen. Ähnlich wie in einem Flugsimulator üben sie mit menschenähnlichen Dummys und Computern. “Der Fokus liegt auf der Notfallausbildung für fertige Kollegen”, sagt der Leiter des Ausbildungszentrums, Jan Baus. “Es wäre sinnvoll, das Angebot auch für angehende Mediziner im Praktischen Jahr auszubauen.”
Beispielsweise werden im Zentrum Fälle aus der Anästhesie simuliert, die sich wegen der Nebenwirkungen der Narkose mit einem lebenden Patienten kaum nachstellen lassen. Kollegen und Spezialisten beobachten die behandelnden Ärzte per Kamera vom Nebenraum aus. Später folgt dann das Feedback – sie erörtern das Vorgehen, machen auf Fehler aufmerksam und geben Verbesserungsvorschläge.
“Manche Extremfälle kommen in der realen Kliniksituation nur selten vor. Simulationen bieten hier die Möglichkeit, sie ohne Konsequenzen für echte Patienten zu erproben”, sagt Sascha Rudat, Sprecher der Ärztekammer Berlin. Die Kammer befürwortet – ebenso wie die Gesellschaft für Simulationsmedizin in Deutschland (DGSiM) – den Ausbau solcher Trainingsmethoden.
Die Kosten tragen die Krankenhäuser und Universitäten bisher selbst. Am Unfallkrankenhaus Berlin etwa hat die Anschaffung des Dummys samt Programm 100 000 Euro gekostet. Die Charité rechnet für eine achtstündige simulierte Nachtschicht mit 4000 Euro. Das zusätzliche Angebot könne nicht nur die Mitarbeiterzufriedenheit verbessern, auch der Patient profitiere, sagt Dr. Baus. Ein Arzt, der sein Handwerk verstehe und auch menschlich mit dem Patienten umgehen könne, schaffe mehr Vertrauen und vereinfache den Behandlungsprozess. Eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten.
Die Charité bietet ihr Programm seit drei Jahren an. Medizinstudenten kurz vor ihrem Praktischen Jahr können sich zu den gestellten Nachtschichten melden, auf der Station warten dann alle möglichen überraschenden Fälle auf sie – von dem auf der Treppe gestürzten Hausmeister mit Milzriss bis zum Herzinfarktpatienten.
Das Interesse bei den Studenten ist groß. Bei der letzten Veranstaltung waren die Plätze innerhalb der ersten 23 Minuten nach Freischaltung im Internet ausgebucht. 35 durften schließlich am vergangenen Wochenende teilnehmen, sie opferten ihren freien Samstagabend.
“Hier kann man nochmal Fehler machen und es hat keine Konsequenzen”, sagt ein 26-jähriger Teilnehmer. Und eine Kollegin meint: “Ich will Vertrauen in meine eigenen Fähigkeiten gewinnen.” Sie setzen dabei vor allem auf das Feedback der erfahrenen Kollegen und die Nachbesprechung im Team. Einen Ableger der Berliner Nachtschicht gibt es bereits in Erlangen, das Vorbild kommt aus Freiburg.
Text und Foto: dpa /fw