"Gemeinsam entscheiden" lautet das Motto des diesjährigen Deutschen Schmerzkongresses. Partizipative Entscheidungsfindung, auch "shared decision making" (SDM) genannt, ist ein Modell, in dem Arzt und Patient vertrauensvoll zu einer gemeinsamen Therapieentscheidung kommen. SDM macht diesen Konsens möglich.
Welche Voraussetzungen nötig und welche Maßnahmen denkbar sind, um eine partizipative Entscheidungsfindung in der Schmerzmedizin zu etablieren, diskutieren Experten auf dem Deutschen Schmerzkongress und am 12. Oktober auf der Pressekonferenz in Mannheim.
Das 2013 in Kraft getretene "Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten" (Patientenrechtegesetz) fordert, dass Patienten umfassend aufgeklärt und an der medizinischen Entscheidung beteiligt werden. Die Leitlinien der Schmerzmedizin fordern ebenfalls eine partizipative Entscheidungsfindung. "Mit unserem diesjährigen Kongressmotto 'Gemeinsam entscheiden' setzen wir einen starken Akzent auf das SDM und befassen uns mit der Frage, wie diese Beteiligung konkret aussehen kann", erklärt Professor Dr. med. Matthias Keidel, Kongresspräsident und Chefarzt der Neurologischen Klinik am Campus Bad Neustadt/Saale.
SDM steht für eine partnerschaftliche Entscheidungsfindung, die aus einem patientenzentrierten Ansatz heraus erwächst und als eine besonders günstige Form der Arzt-Patient-Interaktion angesehen wird. Definiert wird SDM als ein über mehrere Phasen laufender Interaktionsprozess zwischen Arzt und Patient auf der Basis geteilter Informationen. Am Ende steht eine gemeinsam getroffene Therapieentscheidung. Es gibt Ansätze, die empfehlen, ein SDM dann einzusetzen, wenn verschiedene evidenzbasierte Behandlungsmethoden zur Wahl stehen, die in ihrer Wirksamkeit als gleichwertig gelten.
Die möglichen Nebenwirkungen einer Therapie können für den Patienten – in Abhängigkeit von seinen Wertvorstellungen und Begleiterkrankungen – jedoch von unterschiedlicher Bedeutung sein. Für die Behandlung von Nervenschmerzen stehen zum Beispiel verschiedene Medikamentenklassen wie Antidepressiva, Antikonvulsiva und Opioide zur Verfügung. "Falls eine Gewichtszunahme auf keinen Fall von einem Patienten oder einer Patientin in Kauf genommen werden will, fallen einige Medikamente bei den Therapieoptionen weg. Weiterhin ist es auch die Aufgabe des Arztes, darüber zu informieren, wie der weitere Krankheitsverlauf vermutlich sein wird, wenn keine Therapie, beispielsweise mit Medikamenten, durchgeführt wird", berichtet Professor Dr. med. Winfried Häuser, Kongresspräsident, Klinik Innere Medizin I des Klinikums Saarbrücken.
Um ein SDM in der Schmerzmedizin zu implementieren und den Patienten zu einem gleichberechtigten Partner im medizinischen Entscheidungsprozess zu machen, müssen neue Wege beschritten werden. "Dazu gehört, dass Informationen für den Patienten verständlich formuliert werden und der Arzt die Erwartungen, Wünsche, Sorgen und Ideen des Patienten erfragt und ihn darin unterstützt, die eigenen Präferenzen herauszufinden und zu gewichten", betont Häuser.
Wenngleich es noch nicht ausreichend Erkenntnisse über den Nutzen des SDM gebe, so sei ein positiver Effekt unbestritten: "Ein Patient, der mitentscheidet, ist zuversichtlicher in Bezug auf den Therapieerfolg und motivierter, an der Therapie aktiv teilzunehmen", weiß Keidel. Es gibt allerdings auch Patienten, die die Entscheidung lieber dem Arzt überlassen möchten. "Gerade diese Patienten profitieren davon, einbezogen zu werden. Ihre passive Haltung ist kein Desinteresse, sondern eher ein Mangel an Selbstwirksamkeitserwartungen", so der Neurologe. Eine weitere Hürde könne sein, dass die Kommunikationsfähigkeit des Arztes noch nicht "partizipativ" sei, wenn er beispielsweise zu viele Fremdwörter verwende und nicht nachfrage, ob und wie der Patient das Ausgeführte verstanden hat.
Auch das Kommunikationsverhalten der Ärzte müsse sich also unter Umständen ändern. Eine weitere Barriere zur Umsetzung von SDM ist die aktuelle Gebührenordnung, welche Gesprächsleistungen bei manchen Arztgruppen nicht vergütet. "Ein ambulant tätiger Neurologe bekommt je Patient im Quartal je nach Bundesland circa 45 Euro pro Patient. Umgerechnet bedeuten 45 Euro etwa 15 Minuten Zeit im Quartal. Eine Viertelstunde sind für Diagnostik und eine umfassende Aufklärung oft nicht ausreichend", erklärt Professor Dr. med. Andreas Straube, Vizepräsident der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft e.V. (DMKG) und Oberarzt an der Neurologischen Klinik der Universität München, Klinikum Großhadern.
Das Tagungsthema "Gemeinsam entscheiden" bezieht sich auch auf die Klug-entscheiden-Initiative der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Diese deutsche Qualitätsoffensive greift internationale 'choosing-wisely-Programme' auf, deren Ziel es ist, die Versorgungsqualität durch ausgewählte Empfehlungen zu verbessern. "Neben einer gemeinsamen fach- und berufsübergreifenden Versorgung steht auch hier die gemeinsame Entscheidungsfindung von Arzt und Patient im Mittelpunkt", betonen die beiden Kongresspräsidenten. Zwölf Fachgesellschaften haben bereits Positiv- und Negativempfehlungen formuliert, um evidenzbasiert bei Über- oder Fehlversorgung gegensteuern zu können.
Was ein "shared decision making" in der Schmerzmedizin ausmacht, wie es in den klinischen Alltag implementiert werden kann, welche konkreten Maßnahmen dazu ergriffen werden können und was man bereits über die Wirksamkeit der SDM weiß, sind Fragen, die auf der Pressekonferenz am 12. Oktober 2017 anlässlich des Deutschen Schmerzkongresses und in einem Symposium des Kongresses diskutiert werden.
esanum ist Medienpartner des Deutschen Schmerzkongresses 2017. Verfolgen Sie hier das gesamte wissenschaftliche Programm im Live-Stream.