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Armutskongress: neue Hartz-IV-Welt schafft mehr Krankheit

Der Politikwissenschaftler und Armutsforscher Prof. Christoph Butterwegge sieht Anlass zu großer Sorge “Durch die Arbeitsmarkt-, Renten- und Gesundheitsreformen der ‘Agenda 2010’ von Gerhard Schröder hat sich Deutschland seit der Jahrtausendwende tiefgreifend verändert”, konstatiert Professor Christoph Butterwegge auf dem Armutskongress in Berlin.

Der Politikwissenschaftler und Armutsforscher Prof. Christoph Butterwegge sieht Anlass zu großer Sorge

“Durch die Arbeitsmarkt-, Renten- und Gesundheitsreformen der ‘Agenda 2010’ von Gerhard Schröder hat sich Deutschland seit der Jahrtausendwende tiefgreifend verändert”, konstatiert Professor Christoph Butterwegge auf dem Armutskongress in Berlin. Nicht die Massenerwerbslosigkeit sei beseitigt worden, wie damals versprochen, “sondern die Armut vermehrt, wodurch sich der Gesundheitszustand und die medizinische Versorgung großer Teile der Bevölkerung verschlechtert haben.” Unter den sozialen Verwerfungen leide die ganze Gesellschaft, sagt Butterwegge, denn sie hätten dazu geführt, dass “Millionen Menschen kein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis mehr haben, das ihnen Schutz vor elementaren Lebensrisiken bieten würde.”

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Durch die Schaffung eines breiten Niedriglohnsektors sei der Druck auf die – häufig prekär und/oder atypisch – Beschäftigten gewachsen, verbunden mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen und psychosozialen Belastungen. Steigender Leistungsdruck, Terminhetze und Dauerstress, die seither an der Tagesordnung seien, machten zahllose Menschen krank – so charakterisiert der Wissenschaftler die gegenwärtige Situation. Er sieht “akute Gesundheitsgefahren” für einen Großteil der arbeitenden Bevölkerung.

Einerseits seien Kranke von den Hartz-Gesetzen und den Gesundheitsreformen besonders stark betroffen, andererseits mache vor allem Hartz IV viele Transferleistungsbezieher krank, weil das rigide Arbeitsmarktregime der Jobcenter die unmittelbar Betroffenen samt ihren Familien einer fast lückenlosen, alle Lebensbereiche umfassenden Kontrollpraxis unterwerfe, sie der sozialen Verachtung aussetze und das Selbstwertgefühl jedes Einzelnen beschädige, was sich häufig in psychischen Störungen niederschlage.

In einem Forschungsbericht des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit heißt es dazu: “Bei den Hilfebeziehern geht es beispielsweise um Fragen wie die teilweise Substitution elektrischen Lichts durch Haushaltskerzen, das Abmelden von Telefonanschlüssen, die Ablehnung von Einladungen und den Verzicht auf Familienfeierlichkeiten wie Geburtstage und Weihnachtsfeste, aber auch um die Nichtinanspruchnahme des Gesundheitssystems oder Abstriche bei Ernährung und medizinisch erforderlichen Diäten, um Probleme bei der Reparatur und/oder Wiederbeschaffung von Haushaltsgeräten oder Mobiliar.”

Längst gebe es das, was Butterwegge als “Hartz-IV-Welt” bezeichnet, und eine “Armutsökonomie sowie eine ausgeprägte Subkultur im Bereich der nach Millionen zählenden Arbeitslosengeld-II-Empfänger samt ihren Familien, die von Hartz-IV-Kochbüchern bis zu Hartz-IV-Kneipen” reiche, wo Leistungsbedürftige unter sich blieben und ihr Bier zu Niedrigpreisen tränken.

Die Sozialwissenschaftlerin Anne Ames hat im Auftrag des Zentrums Gesellschaftliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau untersucht, welche Erfahrungen die Betroffenen gemacht haben. Ihr Fazit: Selbst wenn man den Hilfebedürftigen das ihnen zustehende Geld rechtzeitig und in rechtmäßiger Höhe bewillige, was nach Auffassung der meisten derer, die sich “verarmt, verunsichert, ausgegrenzt und ohne Perspektive” fühlten, viel zu selten geschehe, biete Hartz IV keine hinreichende materielle Grundsicherung: “Die Regelleistung ist zu niedrig, um soziale Kontakte pflegen und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können, zu niedrig, um ein Leben zu führen, das nicht von ständigen Geldsorgen und fortwährender Angst vor selbst geringfügigen Missgeschicken überschattet ist.” So entstünden, folgert Butterwegge, akute Gesundheitsgefahren für einen Großteil der arbeitenden Bevölkerung. Eine drastisch veränderte Arbeitswelt beeinträchtige zusammen mit dem prekären Charakter von Millionen Beschäftigungsverhältnissen die Psyche vieler Menschen.

Ausgesprochen besorgniserregend findet der Wissenschaftler die Situation der Jüngsten: “Heute leben ungefähr 2,58 Millionen Kinder unter 15 Jahren (ca. 24,2 Prozent) in einer armutsgefährdeten Familie oder einer landläufig ‘Hartz-IV-Haushalt’ genannten SGB-II-Bedarfsgemeinschaft, was ihre Lebenssituation nicht bloß hinsichtlich der Ausstattung mit höherwertigen Konsumgütern, sondern auch im Gesundheitsbereich beeinträchtigt.” Sie kämen zum Beispiel auf fast sechs Mal so viele (zahn)ärztliche Behandlungen, die nicht von der Krankenkasse erstattet werden.

Durch spürbare Entbehrungen seien die Möglichkeiten zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit dieser Kinder beschränkt. Hartz IV führe bei ihnen außerdem zu einer deutlich höheren Morbidität und Mortalität gegenüber wohlhabenden, gutsituierten Vergleichspersonen.

Für die Hartz-IV-Betroffenen gebe es keine soziale Gesundheitsgerechtigkeit. Leistungsberechtigte lebten oft in verkehrs-, emissions- und schadstoffreichen bzw. lauten Stadtteilen und schlechten Wohnverhältnissen, etwa sanierungsbedürftigen Alt- oder Plattenbauen am Rande der Großstädte. Sofern sie als “Aufstocker” erwerbstätig seien, hätten sie eher schadstoffbelastete oder aus anderen Gründen ungesunde Jobs, aber auch einen weniger guten Zugang zu medizinischer Versorgung als die große Mehrheit der Bevölkerung.

Ungeklärt sei derzeit noch die Frage, ob der Grundsicherungsbezug im Sinne eines Kausalitätseffekts krankmacht oder ob Krankheit im Sinne eines Selektionseffekts bedürftig macht. Jedenfalls mache Krankheit insofern viele Menschen arm, als sie die Kosten für ärztliche Behandlungen, Medikamente, Heil- und Hilfsmittel sowie Pflegedienstleistungen in einem Gesundheitssystem, das im Zeichen des Neoliberalismus zunehmend ökonomisiert, privatisiert und kommerzialisiert werde, finanziell zunehmend überforderten.

Es falle schwer zu glauben, dass man mit dem Regelsatz im Hartz-IV-Bezug gesund leben kann, da einem volljährigen Grundsicherungsempfänger pro Tag weniger als 5 Euro für Nahrungsmittel, nur etwas mehr als 50 Cent für Gesundheitspflege und überhaupt kein Geld für Gesundheit/Medikamente zustehen. Laut dem IAB-Panel “Arbeitsmarkt und soziale Sicherung” gibt es erhebliche Unterschiede: “Aufstockern geht es gesundheitlich etwas besser als arbeitslosen Leistungsbeziehern, beiden geht es aber deutlich schlechter als Erwerbstätigen ohne Grundsicherungsbezug.”

Neu sei, dass ursprünglich für Wohnungslose, von Obdachlosigkeit bedrohte Menschen oder Migranten eingerichtete kostenfreie Ambulanzen vermehrt von Hartz-IV-Empfängern in Anspruch genommen würden, wobei zunehmend psychische Erkrankungen, Suchterkrankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie Atemwegs-, Muskel- und Skeletterkrankungen behandelt würden.

Auch sei das Gesundheitsbewusstsein unter den Hartz-IV-Betroffenen schlechter ausgebildet, was sich beispielsweise in einer mangelhaften Mundhygiene und einer Vernachlässigung der Prophylaxe niederschlage. Es komme unter ihnen auch vermehrt zu chronischen Krankheiten (z.B. Asthma) und einem höheren Risiko hinsichtlich Problemschwangerschaften und Säuglingssterblichkeit.

Werde das Arbeitslosengeld II vom Jobcenter als Sanktion (pro Pflichtverletzung drei Monate lang) vollständig gestrichen, führt die Bundesagentur für Arbeit auch keine Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung mehr ab, sodass der Gesundheitsschutz für die Betroffenen unter bestimmten Umständen entfalle. Häufig nähmen die Betroffenen keinen Kontakt zu ihrer Krankenkasse auf, weil sie ihren Lebensunterhalt sichern müssen und ganz andere Sorgen haben, erklärt Butterwegge. Ohne eine individuelle Beratung bei der Krankenkasse erführen die Sanktionierten nichts von eventuell trotzdem bestehenden Leistungsansprüchen und gingen womöglich davon aus, dass selbst ihre medizinische Notversorgung nicht garantiert ist, weshalb sie jegliche Behandlung vermieden, um etwaigen Schulden wegen Arzt- oder Krankenhausrechnungen zu entgehen. Dies könne im schlimmsten Fall dramatische (Spät-)Folgen zeitigen.

Ein Perspektivwechsel zeigt: Krank sind oder werden nicht nur viele Arbeitslosengeld-II-Bezieher, sondern auch Jobcenter-Mitarbeiter, die “auf der anderen Seite des Schreibtisches” sitzen und einen “Burn-out” oder “Bore-out” bekommen, weil sie das Hartz-IV-System mit seinen institutionalisierten Ungerechtigkeiten und bürokratischen Verkrustungen frustriere. Die ehemalige Behörden-Mitarbeiterin Inge Hannemann hat wie Butterwegge ein Buch über Hartz IV geschrieben, in welchem sie ihre Schwierigkeiten als psychologisch nicht ausgebildete Jobcenter-Mitarbeiterin im Umgang mit psychisch kranken “Kunden” beschreibt.

Butterwegges alarmierendes Resümee: “Dass überall im Land die Angst umgeht, Millionen Menschen aufgrund der Furcht vor einem Arbeitsplatzverlust, aufgrund mangelnder Berufsperspektiven und aufgrund drohender Sanktionen ihres Jobcenters nicht schlafen können, gehört wegen des gleichzeitig wachsenden gesellschaftlichen Reichtums zu den großen Widersprüchen unserer Zeit.”

Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Zuletzt sind seine Bücher “Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?” sowie “Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung. Eine sozial- und steuerpolitische Halbzeitbilanz der Großen Koalition” erschienen.

Das Gespräch führte Vera Sandberg.

Vera Sandberg#Vera SandbergVera Sandberg, geboren 1952 in Berlin, absolvierte ihr Journalistik-Studium in Leipzig und war 12 Jahre lang Redakteurin einer Tageszeitung in Ost-Berlin. Im Juni 1989 wurde ihr die Ausreise bewilligt, seit 1990 ist sie Autorin für verschiedene Publikationen, Journalistin für medizinische Themen und hat mehrere Bücher geschrieben, zuletzt “Krebs. Und alles ist anders”. Vera Sandberg ist Mutter von zwei inzwischen erwachsenen Kindern und lebt seit 2000 bei Berlin.