Dr. Christa Scheidt-Nave vom Robert Koch-Institut erklärt im Gespräch mit esanum, warum Krankheiten wie Typ-2-Diabetes und Adipositas häufiger in sozioökonomisch schwachen Regionen auftreten
Wer arm ist, wird schneller krank. Das gilt für Diabetes mellitus Typ 2 und Adipositas (Übergewicht) aber auch für Herz-Kreislauf-Krankheiten, Krebs, chronisch-obstruktive Lungenerkrankungen sowie Depressionen und Angststörungen. Risikofaktoren, die diese Krankheiten fördern wie zu wenig körperliche Aktivität und eine ungesunde Ernährung, treten bei ärmeren Menschen häufiger auf. „Es besteht ein Ost-West- und Nord-Süd-Gefälle“, sagt Dr. Christa Scheidt-Nave vom Robert Koch-Institut. Gemeinsam mit Forschern des Helmholtz-Zentrums in München hat sie vor kurzem eine Studie zu dieser Thematik veröffentlicht.
esanum: Ihre Studien ergeben, dass Typ-2-Diabetes und Adipositas häufiger in sozioökonomisch benachteiligten Regionen auftreten. Woran liegt das?
Scheidt-Nave: Diabetes mellitus Typ 2 und Adipositas haben gemeinsame Risikofaktoren, die in sozial benachteiligten gesellschaftlichen Gruppen gehäuft auftreten. Hierzu zählen zum einen verhaltensbasierte Risikofaktoren wie ein Mangel an körperlicher Aktivität und eine ungesunde Ernährung mit hohem Anteil an Weißmehl und Zucker (z.B. über gesüßte Erfrischungsgetränke). Kurzfristige Blutzuckerspitzen lösen Heißhunger und damit einen Teufelskreis aus. Zum anderen sind vor allem in den letzten Jahren die Lebensbedingungen als mögliche so genannte verhältnisbasierte Risikofaktoren in den Blickpunkt gerückt. Diese umfassen die bauliche und infrastrukturelle Beschaffenheit der Wohngegend (Fußgängerfreundlichkeit, Erreichbarkeit von Grün- und Sportanlagen, Einkaufsmöglichkeiten mit ausgewogenem Lebensmittelangebot), die Lärm- und Feinstaubbelastung und die Arbeitsbedingungen etwa in Form von dauerhafter Nacht- und Schichtarbeit.
esanum: In welchen Regionen ist das Risiko, an Diabetes und Übergewichtigkeit zu erkranken, besonders hoch?
Scheidt-Nave: Ergebnisse aus bundesweiten und regionalen Studien deuten darauf hin, dass in Deutschland diesbezüglich ein Ost-West-Gefälle, aber auch ein Nord-Süd-Gefälle besteht. Die Häufigkeit von Diabetes und Adipositas ist danach deutlich höher in den neuen als in den alten Bundesländern und am niedrigsten in Bayern und Baden-Württemberg. Aber auch innerhalb der Bundesländer gibt es erhebliche regionale Unterschiede, die sich beispielsweise auf Ebene der Kreise beschreiben lassen. Dabei gilt stets, dass Diabetes und Adipositas in den sozioökonomisch benachteiligten Kreisen am stärksten verbreitet sind.
esanum: Gilt die Gleichung: arm = häufiger krank?
Scheidt-Nave: Menschen, die in Armut leben, sind von vielen Erkrankungen und Beschwerden verstärkt betroffen. Dazu zählen auch Diabetes mellitus Typ 2 und Adipositas. Armut erhöht aber nicht nur das Risiko für körperliche Erkrankungen. Auch psychische Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen treten häufiger bei von Armut betroffenen Personen auf. Nicht zu vernachlässigen ist dabei die Beobachtung, dass ein enger Zusammenhang zwischen psychischer Gesundheit und gesundheitsbewussten Verhaltensweisen besteht. Menschen, die unter Dauerstress stehen oder depressiv verstimmt sind, neigen eher dazu, sich zu vernachlässigen und/oder Ausgleich über „Risikoverhalten“ zu suchen. Zu Bewegungsarmut und ungesundem Essen kommen dann schnell weitere Risikofaktoren wie Zigarettenrauchen und übermäßiger Alkoholkonsum.
esanum: Warum sind selbst Personen, denen es individuell wirtschaftlich gut geht und die über einen besseren Sozialstatus verfügen, in bestimmten Regionen häufiger von beiden Krankheiten betroffen?
Scheidt-Nave: Hier wirken sich vermutlich verhältnisbasierte Risikofaktoren (siehe Frage 1) aus, die vom einzelnen nicht oder nur schlecht beeinflussbar sind – beispielsweise das Fehlen von sicheren Fuß- oder Radwegen oder ein eingeschränktes Angebot von Sport- und Freizeitmöglichkeiten. Die individuelle soziale Lage wird durch verschiedene Faktoren bestimmt: Bildung, Einkommen und beruflicher Status. So kann jemand, der gut ausgebildet ist, aber arbeitslos wird oder unter seiner Qualifikation arbeiten muss, gezwungen sein, in eine andere Region oder in ein anderes Stadtviertel umzuziehen. Das gleiche gilt für Personen, die zwar über ein gutes Einkommen und eine hohe berufliche Stellung verfügen, aber täglich mit dem Auto oder Personennahverkehr pendeln müssen.
esanum: Was kann jeder einzelne in einer benachteiligten Region unternehmen, um sich vor Diabetes und Adipositas zu schützen?
Scheidt-Nave: Das Wichtigste ist, das eigene Risiko für Adipositas und Typ 2-Diabetes richtig einzuschätzen. Hierzu muss jeder die entscheidenden Risikofaktoren kennen und auch wissen, welche selbst beeinflussbar sind, und wo man vielleicht professionelle Hilfe benötigt. Liegt eine familiäre Belastung (Adipositas oder Diabetes mellitus Typ 2 bei Verwandten ersten Grades) vor, wird es umso wichtiger, erworbene Risikofaktoren zu vermeiden und unter Kontrolle zu bringen. Ganz wesentlich ist die Erkenntnis, dass gesundheitsrelevantes Verhalten eng mit den Lebens- und Arbeitsverhältnissen aber auch dem psychischen Wohlbefinden zusammenhängt. Hier darf der Einzelne nicht allein gelassen werden. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass präventive Ansätze am besten gelingen, wenn sie in die Arbeits- und Lebenswelten der Menschen integriert werden. Hier wird in den nächsten Jahren auf gesellschaftlicher Ebene am meisten investiert werden müssen.
esanum: Inwieweit hat die gesundheitliche Versorgung in einer Region Einfluss auf die individuelle Gesundheit?
Scheidt-Nave: Es ist davon auszugehen, dass auch regionale Versorgungsangebote (und zwar präventive wie therapeutische Angebote) Einfluss auf die individuelle Gesundheit nehmen. Dies im Kontext mit den übrigen, oben genannten Faktoren zu untersuchen ist eines der wichtigen Ziele des bundesweiten Gesundheitsmonitorings am Robert Koch-Institut (www.rki.de).
esanum: Welche anderen Krankheiten hängen in der Häufigkeit Ihres Auftretens von sozioökonomischen Faktoren ab?
Scheidt-Nave: Fast alle weit verbreiteten nicht-übertragbaren chronischen Krankheiten (z. B. Herz-Kreislauf-Krankheiten, Krebs, chronisch-obstruktive Lungenerkrankungen), aber auch Infektionskrankheiten wie Tuberkulose zeigen eine Häufung in Zusammenhang mit schlechterer sozioökonomischer Lage. Das gilt sowohl für Gruppen innerhalb einer Gesellschaft als auch im Vergleich von Ländern mit hohem und niedrigem Einkommen. Dramatische Unterschiede bestehen beispielsweise zwischen West- und Osteuropa. In den letzten Jahren hat sich die Zunahme von chronischen Krankheiten aber auch weltweit in zahlreichen Entwicklungs- und Schwellenländern bemerkbar gemacht, die wirtschaftliche und gesellschaftliche Umbrüche erfahren.