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Altersmedizin insgesamt unterrepräsentiert

Im April findet der 124. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) statt. esanum befragt Kongresspräsidenten Prof. Dr. Cornel Sieber zu den aktuellen Problemen und Schwerpunkten der Inneren Medizin.

DGIM-Kongress richtet den Blick auf den "ganzen Menschen"

Im April findet der 124. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) statt. Fragen an den Kongresspräsidenten Prof. Dr. Cornel Sieber, Chefarzt der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Geriatrie am Krankenhaus Barmherzige Brüder Regensburg, zu den aktuellen Problemen und Schwerpunkten der Inneren Medizin.

esanum: Prof. Sieber, was soll das Kongressmotto "Innere Medizin – Medizin für den ganzen Menschen" ausdrücken?

Sieber: Das ist ein Zitat von Walter Siegenthaler, ein sehr bekannter Internist an der Uniklinik Zürich. Er war in den 80er Jahren Vorsitzender der DGIM. Jetzt bin ich als zweiter Schweizer Präsident der DGIM. Der zweite Grund für das Zitat ist die inhaltliche Seite: Der Blick auf den ganzen Menschen.

Dazu muss man wissen: Ich bin als erster Geriater Vorsitzender der DGIM und organisiere in dieser Eigenschaft den 124. Jahreskongress. Doch die Altersmedizin mischt in Deutschland nicht vorne mit, besonders was die akademische Verortung anbelangt. Als ich 2001 nach Deutschland kam, gab es einen Lehrstuhl an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, den ich bekam – der einzige im Land. Heute gibt es eine Hand voll. Das Fach ist deutlich unterrepräsentiert.

esanum: Was unterscheidet die Geriatrie von anderen Fächern?

Sieber: Ich betreue geriatrische Patienten mit dem Durchschnittsalter von 84 Jahren. Und da ist das Thema immer Multimorbidität. Es geht durchschnittlich um 8 Krankheiten, und praktisch alle sind chronisch. Und dann kommt irgendetwas Akutes dazu, was die Patienten ins Akutkrankenhaus bringt. Etwa ein Drittel haben auch kognitive Einschränkungen. Das bedeutet in einer Zeit, da die evidenzbasierte Medizin das Mantra ist, wo die Evidenz auf klinischen Studien basiert und daraus Leitlinien entwickelt werden, eine Schwierigkeit für den Geriater: welche Leitlinie wende ich denn an bei jemand mit acht Krankheiten? Da komme ich in Schwierigkeiten. Außerdem haben Hochbetagte häufig andere Zielgrößen und Zeitgrößen. Es geht mehr um gute Funktionalität als um pures Überleben. Und das muss ich bereits in der Diagnostik im Sinne des Patienten berücksichtigen – ich muss einen holistischen Zugang zu ihm haben. Deswegen das Zitat von Siegenthaler als Kongress-Motto.

esanum: Sie müssen sehr viel mehr reden als andere Mediziner.

Sieber: Ja, wir machen eine Priorisierung. Ich frage schon beim Erstkontakt: Was stört Sie am meisten? Und muss klären: Was ist machbar? Das ist wie ein Mosaik. Diese Komplexität der Altersmedizin ist für mich als Arzt sehr attraktiv.

esanum: Wann beginnt das hochbetagte Alter?

Sieber: Das hängt davon ab, wo Sie leben. Die durchschnittliche Lebenserwartung eines russischen Mannes ist derzeit unter 60 Jahren. In Deutschland ist das knapp unter 80. Die WHO bestimmt das hohe Alter schon ab 60. In den hoch entwickelten Ländern ist es ans Rentenalter gebunden. Ich persönlich sehe es aus medizinischer Sicht meistens ab 75. Ab 75 bis 80 summieren sich Krankheiten nicht einfach, sondern sie führen dazu, dass Menschen in ihrer Funktionalität bedroht sind. Es gab lange Diskussionen, ob man für den typischen geriatrischen Patienten überhaupt ein Alter angeben soll. Denn das kalendarische Alter ist viel weniger wichtig als die alterstypische Multimorbidität.

esanum: Kurz vor dem DGIM Kongress 2018 - was sind derzeit Ihre größten Sorgen?

Sieber: Eine Problematik ist die Multimorbidität und die Polypharmazie – da beißen sich die Leitlinien oft. Das zweite ist das Thema Internisten als teilinterdisziplinäre Teams. Da sehe ich einen Mangel an Fachleuten durch alle beteiligten Berufsgruppen hindurch. Auch wenn jetzt im Koalitionsvertrag die Pflege hervorgehoben wird – das ist einfach zu spät. Der ältere Mensch braucht mehr Kontakt zum Gesundheitswesen. Vieles wird da ambulant nicht mehr gehen. Also wie werden wir das handhaben? Wie sind die Krankenhäuser darauf vorbereitet, dass es immer mehr betagte und hochbetagte Menschen gibt? Das ist etwas, was mich mit Sorge erfüllt.

esanum: Der demografische Wandel stellt die Medizin vor ganz neue Herausforderungen. Wie sehen Sie das als Geriater?

Sieber: Die Verliebtheit in klinische Studien ist ein Problem. Hochbetagte werden dabei fast nie berücksichtigt. Viele Medikamente sind bei Hochbetagten nicht getestet. Aber ich rede ohnehin lieber von der demografischen Chance, weil es ja schön ist, dass wir älter werden dürfen. Der Geriater ist sozusagen der frühere Allgemein-Internist. Wir schauen den Menschen von oben bis unten an, während die Kliniken heute meist sehr fokussiert und spezialisiert sind. Aber wenn wir bei einem Patienten acht Krankheiten haben, brauchen wir vielleicht fünf Fachbereiche der Inneren Medizin für ihn. Eventuell noch einen Gerontopsychiater oder operative Fächer. Und dann braucht es jemanden, der eine Art Verwalter von alldem ist. Ich sage mitunter, ich fühle mich als Reisebegleiter. Denn es hört häufig nicht auf mit der Behandlung der Akuterkrankung, sondern es ist immer ein rehabilitativer Ansatz dabei.

esanum: Wie steht es um die Interdisziplinarität?

Sieber: Die Interdisziplinäre Zusammenarbeit ist zentral wichtig – und da gibt es noch viel zu tun. Die Schwerpunkte der Inneren Medizin, Kardiologie, Angiologie, Pneumologie, Endokrinologie – das sind Säulen wie bei einem griechischen Tempel. Und darüber braucht es ein Dach, einen Querschnitt. Dieser interagiert mit den Schwerpunkten. Und dafür muss man die Möglichkeit haben, miteinander zu reden. Das geht am besten, wenn wir eine allgemeine innere Medizin haben. Die behandelt die komplexen Patienten, chronisch Kranke und Mehrkranke.

Wir Geriater sind per se ein multiprofessionelles Team: Physio, Ergo, Logo, Ernährung, Sozialdienst – alle zusammen müssen den ganzen Menschen sehen. Und in diesem Sinne ist die Innere Medizin Medizin für den ganzen Menschen.

Der Knackpunkt ist aber: wir müssen die Altersmedizin viel mehr in die Universität hineinbringen. Denn wenn es keinen Lehrstuhl gibt, dann wird das nicht genügend gelehrt. Und dann haben wir keinen Nachwuchs, der interdisziplinär tätig sein wird.

esanum: Wie sehen Sie die Entwicklung der Demenzerkrankungen?

Sieber: Dazu gibt es überraschend einmal etwas Positives mitzuteilen. Neuerdings nimmt die Inzidenz der Demenz in den USA zum ersten mal seit 20 Jahren ab. Die Zahl der Demenzkranken wird zwar insgesamt weiter ansteigen, weil wir immer mehr Ältere haben. Aber davon werden anteilig weniger dement. Die Gründe sind vermutlich bessere Prävention, gesündere Lebensweise, bessere Behandlung von Diabetes und Bluthochdruck.

Doch ein anderer Punkt läuft gar nicht gut: Das ist die Trennung zwischen Körper und Geist. Da gibt es eine zu deutliche Trennung zwischen den fachlichen Strukturen. Im Demenzbereich ist das am auffälligsten, deren Behandlung völlig von der Inneren Medizin getrennt in der Neurologie vorgenommen wird.

esanum: Ärzte fordern aktuell ein politisches Einwirken, um die wachsende Übergewichtigkeit der Bevölkerung einzudämmen. Was halten Sie davon?

Sieber: Das finde ich absolut richtig. Die DGIM unterstützt dieses Programm. Das setzt voraus, dass die Politik die Brisanz des Themas sieht. Die Frage ist, welchen Hebel kann man ansetzen? Man muss in den Schulen mehr über gesunde Ernährung sprechen und mehr körperliche Aktivität in den Schulunterricht einbauen. Da kann die Politik etwas bewirken. In meinem Bereich ist es anders. Da geht es darum, dass die Leute zu wenig essen und dann einen Muskelabbau haben. Das Schlimmste ist, wenn sie übergewichtig sind und keine Muskeln haben. Aber es geht eben durch alle Altersgruppen. Viele Junge können bestimmte Berufe gar nicht ergreifen, weil sie es körperlich nicht schaffen. Sie haben Rücken- und Gelenkprobleme, abgesehen von hohem Blutdruck. Es gibt ja bereits die Annahme, dass es mit der demografischen Entwicklung nicht mehr lange so weiter geht, weil die heute Jungen gar nicht das Potential haben, so alt zu werden.

Am Institut für Biomedizin des Alters in Nürnberg, das ich leiten darf, machen wir vor allem Forschung zur Funktionalität. Und unsere wichtigsten Themen sind körperliche Aktivität und Ernährung. Dem wird sich der Kongress auch zuwenden – unter dem Satz von Hippokrates "Eure Nahrung sei eure Medizin".

esanum: Der Kongress wird sich auch der Versorgungsforschung widmen. Worum geht es?

Sieber: Es geht sehr stark um Versorgungsstrukturen. Das Spannungsfeld ambulant – stationär ist wichtig. Hierzu brauchen wir viel mehr Versorgungsforschung. Auf dem Land sieht die Struktur natürlich ganz anders aus als in einem Ballungszentrum. Junge Menschen verlassen den ländlichen Raum. Zurück bleiben die weniger mobilen älteren Menschen. Das ist brisant, denn da fallen soziale Strukturen weg. Das ist nicht neu, das hätte man wissen können.

Wir brauchen auch mehr Forschung im eigenen Land, ein Pflegeheim in Deutschland sieht ganz anders aus als in den USA.

esanum: Vor etwa einem Jahr wurde auch von Ihrer Fachgesellschaft ein so genannter Medizin-Kodex initiiert unter dem Motto: Medizin vor Ökonomie. Was sagen Sie dazu?

Sieber: Das Thema begleitet uns weiter. Es wird auch nicht so schnell verschwinden. Ich möchte das gern erweitern. Die Ökonomisierung führt nämlich auch dazu, dass alles, was irgendwie geht, ambulant gemacht wird. Das ist primär gar nicht so schlecht. Was bedeutet das aber für mich als akademischer Lehrer? Wenn gewisse Gebiete in den Krankenhäusern gar nicht mehr mit Betten abgebildet werden, zum Beispiel die Angiologie, die Diabetologie und die Endokrinologie - wie funktioniert unter diesen Umständen die Weiterbildung? Wie bilden wir junge Ärzte in diesen Bereichen so aus, dass sie in zehn Jahren diese Patienten betreuen können? Die Ökonomisierung hat hier ganz klar zur Folge, dass bestimmte Erkrankungen im Krankenhaus nicht mehr behandelt werden können, weil sie nicht entsprechend vergütet werden. Für den medizinischen Nachwuchs hat das dramatische Auswirkungen. Das bedrückt mich und macht mir Sorgen.