Das Bewusstsein für die Gendermedizin ist in der Bevölkerung vergleichsweise gering, bei Ärzt:innen aber hoch. Dennoch wird das Wissen darüber nicht immer berücksichtigt. Das zeigt eine in Köln veröffentlichte Umfrage des Versicherungskonzerns Axa. Mit 49 Prozent glaubt nur knapp jeder zweite Befragte, dass das Geschlecht bei der Behandlung relevant ist. Unter den befragten Hausärzt:innen sind es 96 Prozent.
Mit 73 Prozent sagen knapp drei Viertel der befragten Ärzt:innen, dass das Geschlecht auch bei der Behandlung von Herzkreislauferkrankungen wie einem Herzinfarkt eine Rolle spielt. In der Gesamtbevölkerung stimmen dem lediglich 21 Prozent zu.1
Die biologischen Unterschiede zwischen Mann und Frau spielen bei vielen Krankheiten eine bedeutende Rolle und können die Diagnose als auch die Therapie durch unterschiedliche Prävalenzen und Krankheitsverläufe beeinflussen.2
Besonders wichtig ist dieses Bewusstsein bei der Diagnosestellung von lebensbedrohlichen Krankheiten, zum Beispiel beim Herzinfarkt: Der charakteristische Brustschmerz kann bei Frauen ausbleiben, stattdessen können bei ihnen unter anderem die Symptome Atemnot, Rückenschmerz und Erbrechen auftreten. Weitere Erkrankungen mit geschlechtsspezifischen Unterschieden sind in der folgenden Tabelle aufgeführt.
Einige Beispiele für geschlechtsspezifische Unterschiede bei Erkrankungen: Modifiziert nach 3
Erkrankung | Geschlechtsspezifische Unterschiede |
---|---|
Herz-Kreislauf-Erkrankungen | Unterschiedliche Symptome bei Herzinfarkt; Unterschiede bei Verlauf und Häufigkeit von Herzerkrankungen |
Krebs | Unterschiedliche Häufigkeiten bezüglich mancher Krebsarten, unterschiedliche Wirkung von Krebstherapien möglich |
Autoimmunerkrankungen | Treten bei Frauen häufiger auf (z.B. rheumatoide Arthritis, Lupus, MS) |
Psychische Erkrankungen (Depressionen, Angststörungen) | Unterschiede bei Diagnose, Inzidenz, Schweregrad und Versorgung |
Osteoporose | Hormonell bedingtes erhöhtes Risiko bei Frauen nach den Wechseljahren |
Medikamentenunverträglichkeit | Unterschiede in Ansprechen, Nebenwirkungen und Dosierungsanforderungen |
Bei medizinisch relevanten Unterschieden der Geschlechter denken die meisten Menschen zunächst an die anatomischen und physiologischen Eigenschaften. Körperbau und hormonelle Unterschiede sind doch ein alter Hut, oder? Die biologischen Merkmale können jedoch durch äußere Einflüsse stark beeinflusst werden. Stichwort Epigenetik: Umweltfaktoren können die Aktivität von Genen verstärken oder auch bremsen, ohne die DNA-Sequenz zu verändern – und so zu Geschlechtsunterschieden zwischen Frau und Mann beitragen.
Soziale Unterschiede zwischen den Geschlechtern und deren Verhaltensmuster spielen oft eine große Rolle:4 Frauen gehen häufiger zu Vorsorgeuntersuchungen als Männer und sprechen eher über ihre körperliche Verfassung, reagieren aber stärker auf Stress. Männer haben im Durchschnitt einen höheren Alkohol- und Nikotinkonsum. Dies wird als eine der Ursachen für das höhere Krebsrisiko von Männern gesehen.5 Andererseits reagieren Raucherinnen sensibler auf Nikotin. Bei Raucherinnen sind schwere COPD-Verläufe häufiger als bei Rauchern und das Risiko für Herzinfarkte ist 25 % höher als bei Männern.5
Das Wort „geschlechtsspezifisch“ umfasst beide Komponenten der Gendermedizin: Das biologische Geschlecht und den soziokulturellen Aspekt.5
Verhaltensmuster in der Gesellschaft sind in ständigem Fluss. Ändern sich die Lebensverhältnisse, etwa wenn Frauen häufiger in klassischen Männerberufen arbeiten oder in früher „typischen“ Männersportarten trainieren, können sich Risiken und Krankheitsverläufe entsprechend verändern.5 Die fortschrittliche Medizin muss sich der Herausforderung stellen, dies immer wieder neu zu berücksichtigen.
Eine große Herausforderung ist die unterschiedliche Wirkung von Medikamenten bei Frau und Mann. Klinische Studien wurden in der Vergangenheit oft nur mit Männern als Probanden durchgeführt, um die Ergebnisse nicht durch Interaktionen mit dem weiblichen Zyklus zu „verfälschen“. Aus dem gleichen Grund werden auch Tierversuche meist mit männlichen Tieren durchgeführt.3
Es ist bekannt, dass die Pharmakokinetik und -dynamik von Arzneimitteln bei Frauen und Männern unterschiedlich ist.6 Trotzdem resultieren aus dieser Forschung die gleichen Behandlungsempfehlungen für Männer wie für Frauen. Laut Prof. Dr. Glezerman, Professor emeritus für Geburtsheilkunde und Gynäkologie sowie Fachbereichsleiter für Gendermedizin an der Universität Tel Aviv, führe dieser Umstand dazu, dass die Nebenwirkungen bei weiblichen Patienten um 30 % höher sind.3 Auch die Wirkung der Medikamente kann sich deutlich unterscheiden: So kann beispielsweise Morphin bei Frauen stärker analgetisch wirken als bei Männern.7
Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Pharmakokinetik können bei Paracetamol in Abhängigkeit der individuellen Leberfunktion dazu führen, dass bei Frauen aufgrund einer geringeren Clearance ein höheres Risiko für toxische Schäden nach Überdosierung auftreten.7
In den USA gab es bei Frauen sogar eine Reihe von Autounfällen aufgrund der längeren Wirksamkeit eines Schlafmittels, wovon am Morgen noch erhebliche Mengen im Blut nachweisbar waren.3 Die FDA empfiehlt seitdem, die Dosierung desselben bei Patientinnen zu halbieren.3
Fazit
Von einer sensibilisierten geschlechtsabhängigen Medizin profitieren beide Geschlechter. So kann zum Beispiel der charakteristische Brustschmerz eines Herzinfarkts bei Frauen ausbleiben und stattdessen andere Symptome wie Atemnot, Rückenschmerz, und Erbrechen auftreten.3 Es geht darum, im Praxisalltag vom „One-Size-Fits-All-Schema“ hinwegzukommen und jedem Patienten und jeder Patientin die individuell passende Diagnose und Therapie zu ermöglichen.
PP-AU-DE-2147