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Orale Kontrazeption und Migräne: POP statt KOK

Wie sollte die Verschreibung von hormonellen Kontrazeptiva bei Migräne-Patientinnen gehandhabt werden und wann ist der Neurologe einzubeziehen?

Zwei Fallbeispiele aus dem gynäkologischen Praxisalltag:

Welche Kontrazeptiva kommen jeweils in Frage? Wie in den beiden Fällen vorgegangen wurde, erfahren Sie am Ende des Beitrags.

In der gynäkologischen Praxis sollte jede Frau mit Verhütungswunsch nach wiederkehrenden Kopfschmerzen befragt werden. Denn um das Hirninfarktrisiko einschätzen zu können, muss zunächst eine Kopfschmerzerkrankung erkannt und zwischen einer Migräne mit bzw. ohne Aura sowie anderen Kopfschmerzen differenziert werden. Im Rahmen der regelmäßigen Verlaufskontrollen und der erneuten Rezeptausstellung ist die Genese und Aktivität der Kopfschmerzen zu hinterfragen und ggf. neu zu bewerten.1

Migräne bei fast jeder fünften Patientin

Die Prävalenz der Migräne wird bei Frauen in den USA und Westeuropa auf 18 % beziffert, das kumulative Lebenszeitrisiko auf 43 %. Prämenstruell rasch abfallende Östradiolspiegel gelten als ein typischer Auslöser für Migräneattacken.1 Etwa 7 % aller Migräne-Patientinnen leiden an einer menstruellen Migräne (Zeitfenster: 2 Tage vor bis zu 3 Tage nach dem Einsetzen der Blutung; in mindestens 2 von 3 Zyklen). Mit einem Anteil von ca. 50 % deutlich häufiger findet sich eine menstruationsassoziierte Migräne, bei der die Attacken zusätzlich auch zu anderen Zeiten des Zyklus auftreten. Zumeist handelt es sich um eine Migräne ohne Aura.2

Typisch für die Manifestation einer Aura ist eine visuelle Symptomatik (Flimmerskotome, Gesichtsfeldausfälle), seltener sind sensible Beschwerden (Kribbeln, Taubheitsgefühle) oder Sprachstörungen. Zu den Kriterien für eine Migräne mit Aura zählen zudem: Auftreten der Symptome mindestens bei zwei Attacken (bei visuellen oder sensiblen Symptomen auf derselben Seite wie der Kopfschmerz); eine Dauer von mindestens 5 und höchstens 60 Minuten; Beginn der Kopfschmerzen noch während der Aura oder maximal 60 Minuten danach.3

Bei Migräneverdacht: Überweisung zum Neurologen

Für die Kopfschmerz-Diagnostik sollte bei Migräneverdacht bzw. bei Unsicherheiten ein Neurologe hinzugezogen werden.1 „Bei atypischer Anamnese sowie bei einer Migräne mit Aura ist wenigstens eine fachärztlich-neurologische Untersuchung erforderlich“ und ggf. eine zerebrale Bildgebung mittels MRT, empfiehlt die Deutsche Migräne- und Kopfschmerz-Gesellschaft (DMKG). Die Verantwortung für die kontrazeptive Verordnung muss man deshalb aber nicht an die Nervenspezialisten abgeben.

Bei zyklusabhängigen Kopfschmerzen, die sich nicht migräneartig und ohne Aura präsentieren, können alternativ zu einer Gestagen-Monotherapie auch kombinierte orale Kontrazeptiva (KOK), bevorzugt im Langzyklus oder als Langzeiteinnahme, angewendet werden. Treten unter der Einnahme von KOK erneut Kopfschmerzen auf, sind die Ursachen stets abzuklären.1,4

Migräne mit Aura: absolute Kontraindikation für KOK

Gemäß epidemiologischer Evidenz besteht bei Frauen mit Migräne ein erhöhtes Risiko für einen ischämischen Schlaganfall oder eine andere kardiovaskuläre Erkrankung, vor allem dann, wenn eine Migräne mit Aura vorliegt. In diesem Fall ist das Apoplexrisiko unter KOK-Anwendung um das 6-Fache erhöht. Deshalb sieht die S3-Leitlinie der DGGG in dieser Situation eine absolute Kontraindikation für KOK vor. Bei einer Migräne ohne Aura kann der Einsatz von KOK bei Patientinnen unter 35 Jahren dagegen in Erwägung gezogen werden, sofern keine weiteren Risikofaktoren bestehen (WHO 2 bzw. 3). Die Anwendung der Gestagenmonopille (POP) ist dagegen altersunabhängig möglich. Lediglich bei Patientinnen, die von einer dauerhaft auftretenden Migräne mit Aura betroffen sind, rangiert auch die POP-Option in der WHO-Kategorie 3. Gleiches gilt für levonorgestrelhaltige Intrauterinsysteme (LNG-IUS).1,4,5

Die neurologischen Fachgesellschaften stecken den Rahmen für KOK in ihrer S1-Leitlinie etwas großzügiger ab: „Eine Vielzahl von epidemiologischen und Fall-Kontroll-Studien zeigt einen Zusammenhang zwischen einer Migräne mit Aura bei Frauen und vaskulären Ereignissen. Daher sollten in dieser Konstellation vaskuläre Risikofaktoren behandelt werden. Östrogenhaltige Kontrazeptiva sind allerdings nicht grundsätzlich kontraindiziert, vorausgesetzt, dass die anderen Risikofaktoren kontrolliert sind. Bei Frauen, die unter einer Migräne mit Aura leiden und die häufige Attacken haben, sollten Gestagene zur Antikonzeption verwendet werden.“6

Empfehlungen der S3-Leitlinie zur hormonellen Empfängnisverhütung bei Migräne1:

Evidenzbasiertes Statement (S) / Evidenzbasierte Empfehlung Grad
(Evidenz / Empfehlung)
Seite
E9 Bei Migräne mit Aura sollen kombinierte hormonelle Kontrazeptiva nicht verordnet werden. Beim Auftreten einer Migräne mit Aura unter Einnahme einer kombinierten hormonellen Kontrazeption soll die Einnahme beendet werden. 2- / A 79
S14 Migräne mit Aura erhöht das Risiko für den ischämischen Hirninfarkt. Das bei Frauen mit Migräne mit Aura erhöhte Risiko für ischämischen Hirninfarkt wird durch die Einnahme von hormonellen Kontrazeptiva weiter erhöht. 2- / 79
E10 Frauen mit Migräne mit oder ohne Aura, aber ohne zusätzliche ATE-Risikofaktoren können Gestagen-Mono-Kontrazeptiva verordnet werden. Bei Neuauftreten einer Migräne mit Aura unter einem Gestagen-Mono-Kontrazeptivum sollte dieses abgesetzt werden. 2- / 0 80
E11 Migränepatientinnen können bei Bedarf unbedenklich die derzeit zur Verfügung stehenden Medikamente der Notfallkontrazeption anwenden. 2- / 0 80

Empfehlung der WHO-Leitlinie5:


Kategorien: 1 = unbeschränkte Anwendung der Methode; 2 = Nutzen > Risiko; 3 = Nutzen < Risiko (auf Patientenwunsch nach ausführlicher Aufklärung und bei fehlender Alternative möglich; sorgfältige Überwachung notwendig); 4 = keine Anwendung der Methode aufgrund zu hoher Gesundheitsrisiken (Kontraindikation)5

Fazit: Alternativ zu Etonogestrel-Implantat, LNG-IUS oder Cu-IUD kann bei Migräne-Patientinnen eine orale Kontrazeption unproblematisch mit Desogestrel durchgeführt werden. Ein Östrogenmangel ist bei dieser Anwendung nicht zu befürchten.7

Vorgehen in Fall 1:

Da Frauen mit Migräne mit Aura ein erhöhtes Basisrisiko für ischämische Insulte aufweisen, sind alle kombinierten hormonellen Kontrazeptiva kontraindiziert (WHO 4), neben KOK auch transdermales kontrazeptives Pflaster und Vaginalring. Als Alternative kommen POP für die orale Kontrazeption in Frage, ferner eine Hormon- oder Kupferspirale (LNG-IUS/Cu-IUD), wobei keine Interaktion mit Antidepressiva zu befürchten ist.4

Vorgehen in Fall 2:

Aus Alter und Nikotinabusus von mehr als 15 Zigaretten pro Tag ergibt sich eine Kontraindikation für alle kombinierten hormonellen Kontrazeptionsmethoden (oral, Pflaster und Ring). Barrieremethoden bzw. eine Sterilisation lehnt die Patientin ab, stattdessen wünscht sie sich eine hormonelle Kontrazeption. In Betracht kommen dafür eine orale Gestagenmonotherapie, ein Etonogestrel-Implantat für 3 Jahre, Depotgestagen-Injektionen alle 3 Monate oder auch die Insertion eines LNG-IUS oder (nicht-hormonell) eines Cu-IUD. Die Patientin entscheidet sich angesichts ihrer noch ambivalenten Einstellung bezüglich Kinderwunsch gegen eine Langzeitkontrazeptionsmethode und für die Anwendung einer Gestagenmonopille mit 75 μg Desogestrel (WHO 2). Sie wird über die Notwendigkeit einer kontinuierlichen und möglichst zeitgenauen täglichen Anwendung sowie über die Möglichkeit initialer Zwischenblutungen aufgeklärt. Zudem wird die Patientin zur Einschränkung ihres Zigarettenkonsums motiviert.8

Referenzen:

  1. S3-Leitlinie Hormonelle Empfängnisverhütung. AWMF-Registernummer: 015-015. Stand: August 2019. Version: 1.0. Verfügbar unter: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/015-015.html
  2. Mathew PG et al. A cyclic pain: the pathophysiology and treatment of menstrual migraine. Obstet Gynecol Surv 2013;68(2):130-40
  3. Migräne-Patientinnen: Differenzierte Auswahl des Kontrazeptivums. Dtsch Arztebl 2012;109(3):A-103
  4. Römer T. Kontrazeption bei Patientinnen mit Risikokonstellation. Dtsch Arztebl 2019;116(45):771-5 (inklusive Zusatzmaterial: eKasuistik)
  5. WHO. Medical Eligibility Criteria for Contraceptive Use. 5th edition, 2015
  6. S1-Leitlinie „Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne“. Herausgegeben von der Kommission Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) in Zusammenarbeit mit der Deutschen Migräne-und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG). AWMF-Registernummer: 030/057. Stand: Januar 2018
  7. Ludwig M. Hormonsprechstunde: Sie fragen – Experten antworten. Frauenarzt 2017;58(9):749-51
  8. Römer T. „Gestagenmonokontrazeption – wann sinnvoll? – Ein Einblick in aktuelle Kasuistiken.“ Vortrag im Rahmen der Fortbildung Gynäkologie im Fokus, Berlin, 07.07.2018

Abkürzungen:
Cu = Kupfer
DGGG = Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe
ICHD-3 = 3. Auflage der Internationalen Klassifikation von Kopfschmerzerkrankungen (International Classification of Headache Disorders)
IHS = International Headache Society
IUC = intrauterine Kontrazeption
IUD = Intrauterinpessar (intrauterine device)