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Update Tibolon: Ein unterschätzter Wirkstoff?

Eine aktuelle Studie berichtet über den erfolgreichen Einsatz von Tibolon bei perimenopausaler Depression – Anlass für einen kurzen Überblick zum Stellenwert dieses Wirkstoffs.

Tibolon ist ein 19-Nortestosteronderivat, das als Prodrug nach der Einnahme rasch enteral aufgenommen und in der Leber zu Metaboliten mit östrogenen, gestagenen und androgenen Eigenschaften metabolisiert wird. Der Wirkstoff ist zur Behandlung von Estrogenmangelsymptomen bei postmenopausalen Frauen zugelassen, deren Menopause mehr als ein Jahr zurückliegt.1

Wenn man sich nur der deutschsprachigen Literatur widmet, könnte man den Eindruck bekommen, Tibolon sei etwas in Vergessenheit geraten. Ein Blick in die Meta-Datenbank PubMed erbringt den Gegenbeweis: Zahlreiche aktuelle Publikationen beschäftigen sich auch im Jahr 2018 mit diesem Wirkstoff, den eine internationale Konsensusgruppe schon 2005 als „außergewöhnliche Substanz“ bezeichnet hat, die „weltweit häufig zur Behandlung klimakterischer Symptome eingesetzt wird“.2

Aktuelle Studie aus dem Jahre 2018 zeigt Erfolg bei depressiver Symptomatik

Zu den aktuellsten Publikationen zählt eine australische Studie im RCT-Design (randomisiert, kontrolliert, doppelblind), in die 44 Frauen mit depressiver Symptomatik im menopausalen Übergang aufgenommen wurden3. Die eine Hälfte von ihnen erhielt Tibolon (2,5 mg/tgl.), die andere ein orales Placebo. Primärer Endpunkt war die Erfassung der Symptome anhand der MADRS-Skala (Montgomery-Asberg Depression Rating Scale) nach 12-wöchiger Behandlungsdauer.

Bei den Teilnehmerinnen im Tibolon-Arm verbesserten sich die Werte auf der Depressionsskala im Vergleich zur Placebogruppe signifikant, ohne dass relevante Nebenwirkungen auftraten. Angesichts der kleinen Teilnehmerzahl und des kurzen Beobachtungszeitraums besteht weiterer Forschungsbedarf. Die Autoren der Studie versprechen sich vom Gebrauch solcher „Hormontherapien wie mit Tibolon“ jedenfalls „spannende Neuerungen“ für die Behandlung der perimenopausalen Depression.3

Gewebeselektive Wirkungen der drei aktiven Metaboliten

Pharmakologische und experimentelle Konzepte weisen Tibolon eine Sonderstellung als gewebeselektives synthetisches Steroid der STEAR-Klasse (Selective Tissue Estrogenic Activity Regulator) zu.4 Gewebeselektiver Metabolismus, Enzymregulierung und/oder Rezeptorbindung und -aktivierung führen zu spezifischen Wirkungen von Tibolon in verschiedenen Geweben. Zwei seiner drei aktiven Metaboliten (3α/3ß-OH-Tibolon) wirken überwiegend estrogen auf Knochen, vaginale Schleimhaut und thermoregulatorische Zentren im Gehirn. Die dritte Komponente (Δ4-Isomer) weist dagegen gestagene und androgene Eigenschaften auf.

Dieses Pharmakoprofil ermöglicht die Substitution insuffizienter physiologischer Estradiol-Aktivitäten und als erwünschten Zusatzeffekt androgene Wirkungen. Tibolon induziert keine Zunahme der mammografischen Dichte und die geringe Inzidenz einer Stimulation des Endometriums macht die zusätzliche Gabe eines Gestagens verzichtbar.

Konsensusempfehlungen für die medizinische Praxis

Anspruch der bereits erwähnten Konsensusgruppe war es, auf Basis der damals verfügbaren Evidenz praktische Empfehlungen für die Anwendung von Tibolon bei postmenopausalen Frauen zu erarbeiten. Mit Blick auf die Alltagspraxis ging es vor allem darum, Patientinnengruppen zu definieren, die besonders von einer Behandlung mit Tibolon profitieren könnten.2

Das multidisziplinäre Gremium bewertete Tibolon im Konsens als nützliche Therapieoption für Frauen mit klimakterischen Beschwerden. Als positiv wurden auch die zumeist positiven Auswirkungen auf das sexuelle Wohlbefinden und die Stimmung, die gute Verträglichkeit sowie die geringe Inzidenz von Vaginalblutungen und Brustschmerzen beschrieben.

Nach den Empfehlungen der Expertenrunde besteht ein möglicher Nutzen durch die Behandlung mit bzw. Umstellung auf Tibolon u. a. bei:

In der 2003 publizierten Million Women Study war bei Einnahme von Tibolon ein erhöhtes Brustkrebsrisiko gegenüber Frauen, die keine Hormonersatztherapie einnahmen, festgestellt worden. Dabei war das relative Risiko unter Tibolon weniger stark erhöht als unter einer Estrogen-Gestagen-Therapie (EPT) (RR: 1,45 vs. 2,00).5

Interventionsstudien zeichnen insgesamt ein günstiges Bild

Groß angelegte Interventionsstudien mit Tibolon, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der obigen Konsensusempfehlungen noch liefen, sind mittlerweile abgeschlossen. Es ging darin um noch offene Fragen bezüglich Wirksamkeit und Sicherheit. Einige der Ergebnisse für Tibolon lauten knapp zusammengefasst:

Empfehlungsgrad A

In der mittlerweile abgelaufen deutschen S3-Leitlinie zur Hormontherapie in der Peri- und Postmenopause wird Tibolon mit dem höchsten Empfehlungsgrad A als Therapiestandard bei Hitzewallungen aufgeführt.11

In einem 2017 erschienenen Review weist eine Autorengruppe aus den USA und Mexiko darauf hin, dass die Teilnehmerinnen in den Studien LISA und THEBES unter 60 Jahre alt waren, in der LIFT-Studie dagegen ein Durchschnittsalter von über 68 Jahren aufwiesen.12 Demzufolge könnte der späte Therapiebeginn mit Tibolon erst mehrere Jahre nach der Menopause eine mögliche Erklärung für das in der LIFT-Studie erhöhte Schlaganfallrisiko sein. Denn bei perimenopausaler Einnahme war keine solche Risikoerhöhung zu beobachten.13

Die Review-Autoren empfehlen deshalb, ein besonderes Augenmerk auf den Startzeitpunkt der Therapie zu legen, „die während der Perimenopause oder unmittelbar nach der Menopause beginnen und nach 5 Jahren oder vor dem 60. Lebensjahr enden sollte“. Außerdem weisen die Wissenschaftler auf das neuroprotektive Potenzial von Tibolon hin.12

Fazit:

Alles in allem ergibt sich bei Betrachtung der vorhandenen Studienlage ein positives Bild für Tibolon: Zur evidenten Wirksamkeit gesellen sich pharmakologische Add-on-Effekte. Das Sicherheitsprofil erscheint in etwa vergleichbar mit der Estrogentherapie (ET) und günstiger als bei EPT. Zu den vergleichbaren Kontraindikationen aller drei Optionen zählt ein bestehender oder früherer Brustkrebs (inklusive Verdacht).

Für den medizinischen Praxisalltag jenseits der Studienwelt gilt in jedem Fall, was auch die oben zitierten Konsensusexperten am Ende ihres Beitrags betonten: Jede Entscheidung wird individuell und nach adäquater Beratung gemeinsam mit der Patientin getroffen.


Referenzen:

  1. Fachinformation, Stand: 4/2018
  2. Kenemans P, Speroff L. Tibolon: Klinische Empfehlungen und praktische Richtlinien. Ein Bericht der Internationalen Tibolon-Konsensusgruppe. FRAUENARZT 2005;7:575-80
  3. Kulkarni J et al. Tibolone improves depression in women through the menopause transition: A double-blind randomized controlled trial of adjunctive tibolone. J Affect Disord 2018;236:88-92. doi:10.1016/j.jad.2018.04.103
  4. Reed MJ, Kloosterboer HJ. Tibolone: a selective tissue estrogenic activity regulator (STEAR). Maturitas 2004;48(Suppl. 1):4–6
  5. Beral V1, Million Women Study Collaborators. Breast cancer and hormone-replacement therapy in the Million Women Study. Lancet 2003;362(9382):419-27
  6. Archer DF et al. Endometrial effects of tibolone. J Clin Endocrinol Metab 2007;92(3):911-8
  7. Cummings SR et al. The effects of tibolone in older postmenopausal women. N Engl J Med 2008;359(7):697-708
  8. Opatrny L et al. Hormone replacement therapy use and variations in the risk of breast cancer. BJOG 2008;115:169-75
  9. Nijland EA et al. Tibolone and transdermal E2/NETA for the treatment of female sexual dysfunction in naturally menopausal women: results of a randomized active-controlled trial. J Sex Med 2008;5(3):646-56
  10. Kenemans P et al. Safety and efficacy of tibolone in breast-cancer patients with vasomotor symptoms: a double-blind, randomised, non-inferiority trial. Lancet Oncol 2009;10(2):135-46
  11. S3-Leitlinie „Hormontherapie in der Peri- und Postmenopause (HT)“, AWMF-Leitlinien-Registrier Nr. 015/062. Stand: 01.09.2009 (in Überarbeitung), gültig bis 01.09.2014
  12. Pinto-Almazán R et al. Effects of Tibolone on the Central Nervous System: Clinical and Experimental Approaches.Biomed Res Int 2017:8630764. doi:10.1155/2017/8630764
  13. Biglia N et al. Tibolone in postmenopausal women: a review based on recent randomised controlled clinical trials. Gynecol Endocrinol 2010;26(11):804-14