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Die Grenzen der Digitalisierung in der Medizin

Endlich wird alles gut. Der Koalitionsvertrag der Ampelregierung mit dem Titel „Mehr Fortschritt wagen“ widmet der Digitalisierung breitesten Raum. Geplant ist ein „umfassender digitaler Aufbruch“ und ein „vorsorgendes, krisenfestes und modernes Gesundheitssystem, welches die Chancen biotechnologischer und medizinischer Verfahren nutzt, […] dies unter zu Zuhilfenahme „datenbasierter Lösungen quer durch alle Sektoren“.

Endlich wird alles gut. Der Koalitionsvertrag der Ampelregierung mit dem Titel „Mehr Fortschritt wagen“ widmet der Digitalisierung breitesten Raum. Geplant ist ein „umfassender digitaler Aufbruch“ und ein „vorsorgendes, krisenfestes und modernes Gesundheitssystem, welches die Chancen biotechnologischer und medizinischer Verfahren nutzt, […] dies unter zu Zuhilfenahme „datenbasierter Lösungen quer durch alle Sektoren“ 1.

Persönlich gefällt mir vor allem der Zusatz „quer durch alle Sektoren“. Die beglückendste Nachricht, die mich in der aktuellen Corona- Welle erreicht hat, war die Mitteilung, dass der Papierstau des Faxgerätes (es gab nur eines für diesen Zweck) des örtlichen Gesundheitsamtes jetzt behoben und die Meldung von Corona-Infizierten wieder möglich sei. Acht Mitarbeiter des Klinikums hatten über Stunden vergeblich versucht die vorschriftsmäßige Meldung neuer Fälle per Fax an die Behörde zu übermitteln. Wenn eine beschämend veraltete digitale Infrastruktur auf deutsche Regelungs- und Dokumentationswut trifft, darf man sich über mangelhafte Datenerhebung und unzureichende Krisenbewältigung nicht wundern.

Es ist keineswegs so, dass die Vorgänger von Karl Lauterbach sich nicht auch schon an Digitalisierung versucht hätten. Vor allem an einer sektorenübergreifenden, wie der elektronischen Gesundheitskarte (eGK). Hierfür wurde 2005 die Gesellschaft für Telematikanwendungen, kurz GEMATIK, ins Leben gerufen, unter paritätischer Beteiligung der Selbstverwaltungsorgane. Das Ergebnis war ein vollständiger Stillstand über zehn Jahre – ohne eGK. Die mehrheitliche Haltung lässt sich prägnant mit dem Zitat von Axel Brunngraber beim Deutschen Ärztetag 2010 zusammenfassen: „Wir haben in den vergangenen Jahren wichtige Bollwerke geschaffen und das Projekt auf Jahre hin gestoppt, und das werden wir auch weiter durchhalten.“ Erst eine Gesetzesänderung im Jahr 2019 machte die elektronische Patientenakte gegen den Widerstand der Verbände möglich. Um es auf die Spitze zu treiben, wurde für das Jahr 2021 die flächendeckende Einführung einer elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) und des elektronischen Rezeptes (eRezept) beschlossen. Prompt ging eine Petition an den Deutschen Bundestag, in der eine einjährige, freiwillige Testphase gefordert wird, mit dem Argument, „dass die Technik, […] nicht ausgereift sei, ja, sogar Patientenleben in Gefahr bringe, wenn eine eAU nicht fachgerecht ausgestellt sei.“ Der Kraftakt sei für niedergelassene Praxen und Krankenhäuser nicht zu leisten.

Warum dieses außerordentliche Beharrungsvermögen gegen jegliche Digitalisierung in der Medizin?

  1. Das Vertrauen der Ärzte wurde in der Vergangenheit komplett verspielt. Es wurde mit der Einführung der Patientendatenmanagementsysteme (PDMS, engl. Electronic Health Records, EHRs), die vor allem in Krankenhäusern die patientenbezogenen Informationen in sogenannten klinischen Arbeitsplatzsystemen (KAS) bzw. klinischen Informationssystemen (KIS) erfassen, großmundig versprochen, dass diese die Versorgung der Patienten nachhaltig verbessern und die Dokumentation weit weniger zeitaufwändig sei als auf Papier. Schlecht entwickelte Nutzeroberflächen, fehleranfällige Programme und eine dilettantische Einführung, führten Ärzte in den Burnout und ließen Patienten wiederholt zu Schaden kommen 2, 3. Digitalisierung in Praxis und Krankenhaus ist heute in erster Linie mit maximal erhöhtem Zeitaufwand für die Datenerfassung und nur wenig Mehrwert für die Patientenversorgung verbunden. KlS und KAS werden nach den Bedürfnissen von Programmierern, Medizininformatikern, Abrechnungsstellen, Kostenträ- gern und Regulierungsbehörden konzipiert. Diejenigen, die täglich mit den Programmen arbeiten müssen, Ärzteschaft und Gesundheitsberufe, sind praktisch nie an der Planung beteiligt. Dieser Widerstand ist absolut nachvollziehbar.
     
  2. Interoperabilität digitaler medizinischer Systeme existiert nicht. Sie ist von Seiten der großen Hersteller monolithischer KIS/KAS grundsätzlich nicht vorgesehen. Hersteller werden nur über neue gesetzliche Regelungen, die Jahre zu spät kommen, gezwungen, Schnittstellen zu anderen Anwendungen anzubieten, um auch „Best-Practice“ Insellösungen anzubinden. Dies lassen sie sich dann teuer bezahlen. Wer von Firma X das Notaufnahme- oder Radiologie-IT-System (RIS/PACS) kauft soll auch das Intensivstations-IT-System (PDMS) kaufen und keineswegs das von der Konkurrenzfirma Y, selbst wenn dieses leistungsstärker und benutzerfreundlicher ist. Datenintegration, egal ob für die Notwendigkeiten der Krankenversorgung und Qualitätssicherung oder für die Nutzung für Forschungsprojekte wird so maximal erschwert. Viele digitale Systeme, die Patientendaten generieren, sehen sogar bewusst keine Möglichkeit vor, diese Daten auch wieder auszugeben. Hier müssen zwingend mehr politische Vorgaben gemacht werden, die für die Zulassung digitaler Anwendungen für das Gesundheitssystem einheitliche, offen zu legende Source Codes, einheitliche Exportfunktionen und einheitliche Schnittschnellen vorschreiben.
     
  3. Digitalisierung kostet sehr viel Geld. Das größte Missverständnis von Budgetverantwortlichen und politischen Entscheidungsträgern ist die gefühlte Analogie zum Krankenhausbau. Man nimmt viel Geld in die Hand, plant ein paar Jahre, durchschneidet öffentlichkeitswirksam das Einweihungsband für ein Rechenzentrum und geht davon aus, von den Nutzern für mindestens 20 Jahre nicht mehr behelligt zu werden. Das entspricht ungefähr der Vorstellung, dass man sich heute überlegt ein Ericsson-T36 Tastentelefon von 2001, mit dem man tatsächlich noch telefonieren kann, im Jahr 2022 vielleicht zu ersetzen – und ob dann wirklich gleich ein iPhone 13 nötig ist. Digitalisierung ist rasant und dynamisch, sie erfordert in vielen Bereichen jährliche Aktualisierungen und damit vor allem, anders als Handys, Fachpersonal für die Instandhaltung und Fortentwicklung. Deutsche Krankenhäuser geben für Digitalisierung im Durchschnitt 1,5 bis 1,9 % ihres Budgets aus. In Ländern wie den USA sind es 7 bis 8 %. Nach einem versehentlichen Hacker-Angriff auf das Universitätsklinikum Düsseldorf hat die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen die Zeichen der Zeit erkannt und rüstet seine Unikliniken digital auf. An meiner Universitätsklinik liegt der Bedarf, um Digitalisierung, IT-Infrastruktur und IT-Sicherheit auf dem jeweils aktuellen Stand zu halten, bei 75 Millionen Euro alle vier Jahre. Aus den vom Bund und den Ländern im Rahmen des Krankenhauszukunftsgesetzes, in dem wieder viele Interessensgruppen ihre Anliegen untergebracht haben, in Bayern zur Verfügung gestellten 10,9 Millionen Euro lassen sich für den eigentlichen Aktualisierungsbedarf bei uns gerade mal 1,4 Millionen Euro gewinnen. Das ist nicht nachhaltig. Digitalisierung schafft einen riesigen Fortschritt für die Sicherheit der Patienten, für die Sicherung der Qualität von Diagnostik und Therapie und für die Sicherheit bei der Ausübung unseres Berufes. In unseren Nachbarländern ist sie längst vollzogen. In England kann praktisch jeder Arzt und jede Pflegekraft aus London am nächsten Tag für eine Kollegin in Manchester oder York einspringen. Überall die gleichen Standards, die gleichen elektronischen Patientenakten und die gleichen Prozesse. In Dänemark sind alle Krankenhaus- und Ambulanzbesuche, ebenso wie jede Verschreibung und jede Physiotherapie unter der einheitlichen, bei der Geburt angelegten Identifikationsnummer hinterlegt. Und im Notfall nachvollziehbar. In Belgien verfolgt die Chirurgin die Entstehung eines CT an ihrem Computer zu Hause, bevor sie überhaupt zur Notfalloperation in die Klinik fährt. Mit landesweiten Konzepten, statt Insellösungen in unterschiedlichsten Systemen, gibt es dort keine frustrierenden behandlungsfreien Tage im Krankenhaus. Dort ist es nicht vorstellbar, dass das vorbehandelnde Krankenhaus noch keine Zeit hatte die CT-Untersuchung des Patienten auf eine CD zu brennen oder die Post diese an eine falsche Station im eigenen Haus geliefert hat oder der Hausarzt das Fax mit den letzten Arztbriefen noch nicht absenden konnte. Im internationalen Ranking zum Grad der Digitalisierung von Krankenhäusern (EMRAM) erreicht Deutschland auf einer Skala von 1 bis 7 eine 2,3, liegt deutlich hinter der Türkei, und fällt jährlich weiter zurück 4. In der Spitzengruppe findet sich kein einziges deutsches Krankhaus mehr. Digitalisierung ist zwingend notwendig, aber in keinem Finanzierungs- oder Vergütungsmodell abgebildet oder vorgesehen. Umso schlimmer, weil alle großen Anbieter im IT-Markt derzeit vom investiven Verkaufsgeschäft auf Betreibermodelle (Software- as-a-Service) umstellen, die laufenden Kosten als Dienstleistung geltend machen und keine Abschreibung mehr möglich ist. Finanzierung von Digitalisierung muss kontinuierlich und nicht in Schüben, Aktionen oder Projektförderungen erfolgen. Die Politik muss endlich entscheiden, ob ihre nachhaltige Finanzierung weiter zu Lasten der Einrichtungen und Praxen erfolgen soll, oder aus der Kostenerstattung im Gesundheitswesen zu leisten ist.
     
  4. Digitalisierung schafft Transparenz. Wäre unser Gesundheitssystem ein digitales, würde es wohl keine Unsicherheit darüber geben, wie viele Menschen tagesaktuell an Covid-19 infiziert und wie viele Menschen gegen das Virus geimpft wurden. Aber auch die Feststellung, dass in den Praxen von New Hampshire fünfmal so viele Opiate gegen chronische Schmerzen verschrieben werden wie in Boston erforderte durchgängige Digitalisierung. Somit werden auch Verschreibungsverhalten und Abweichungen von Qualitätsstandards oder „good clinical practice“ transparent. Möglicherweise stecken genau hinter diesen Möglichkeiten, Verhaltensmuster oder Quali tätsdefizite sichtbar zu machen, die Widerstände gegen die Digitalisierung. Den Patienten nützt Transparenz dagegen in höchstem Maße. Aus diesem Grund sollten wir als Ärzte manche unserer Vorbehalte gegenüber der Digitalisierung nochmal überdenken.

Markus M. Lerch, München
Vorsitzender der DGIM

Quellen

  1. Koalitionsvertrag 2021–2025 zwischen der Sozialdemokratischen Partei (SPD), Bündnis 90/Die Grünen und den Freien Demokraten (FDP). Mehr Fortschritt Wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. S. 15 ff.
  2. Robertson SL, Robinson MD, Reid A (2017) Electronic Health Record Effects on Work-Life Balance and Burnout Within the I3 Population Collaborative. J Grad Med Educ 9(4):479–484
  3. Howe JL, Adams KT, Hettinger AZ, Ratwani RM (2018) Electronic Health Record Usability Issues and Potential Contribution to Patient Harm. JAMA 319(12):1276–1278. https://doi.org/10.1001/jama.2018.1171
  4. Stephani V, Busse R, Geissler A (2019) Benchmarking der Krankenhaus-IT: Deutschland im internationalen Vergleich. Krankenhaus-Report 2019. Klauber J, Geraedts M, Friedrich J, Wasem J (Hrsg.). S. 17–32. Springer, Berlin Heidelberg